Yes Men und die Barbiehaare.
Die Künstler-Gruppe The Yes Men (theyesmen.org) ist bekannt für künstlerisch-aktivistische Interventionen (brandeins.de). Sie zeigten z. B. durch so genannte Identitätskorrekturen (Till WillMenn, 2004: heise.de), der eine täuschend echte, aber affirmierend-übertriebene Anverwandlung der Verhaltens- und Sprechweisen von Vertretern weltweit agierender großer Konzerne vorausgeht, die World Trade Organisation (gatt.org, Achtung!) als neo-kapitalistische und skrupellose Ausbeutungsmaschine. Bisweilen greifen die Aktionen in soziale und ökonomische Handlungsfelder ein, wie sich an ihrer Intervention 2004 zum 20. Jahrestag des Unfalls (1984) in einer Pestizide herstellenden Chemiefabrik in Bhopal (zeit.de), Indien zeigte. Sie trieben mit dem gefakten, die Verantwortungslosigkeit bloßstellenden Statement (youtube.com), Dow Chemical würde die Opfer (bhopal.org) des durch die Union Carbide Corporation (tagesschau.de), 2001 von Dow Chemical übernommen (publiceye.ch), verursachten Unfalls entschädigen, die Börsenkurse des amerikanischen Konzerns (theyesmen.org/dowtext/) für 2 Stunden in den Keller (theyesmen.org/hijinks/bbcbhopal).
Anlässlich der Konferenz „Terms of Media“ (cdc.leuphana.com/events/event/the-terms-of-media/) des Centre for Digital Cultures (cdc.leuphana.com) der Leuphana Universität Lüneburg, initiiert und organisiert von Götz Bachmann, Timon Beyes und Wendy Chun, stellte sich die interessante Aufgabe, Igor Vamos, Gründungsmitglied von Yes Men und als solches bekannt als Mike Bonanno, einführend für seine Keynote vorzustellen. Damit stand zum einen in Frage, mit welchen Methoden und mit welchem Konzept dies angemessen geschehen könne. Zum anderen galt es zum Ort der Veranstaltung Stellung zu beziehen. Sie wurde in der Ritterakademie der Stadt Lüneburg abgehalten, in der im gleichen Zeitraum der NS-Prozess gegen Oskar Gröning (93) vollzogen wurde, dem Beihilfe zum Mord in 300000 Fällen vorgeworfen wurde. Eine kultur- und medienwissenschaftliche Veranstaltung, die zudem mit der Vorstellung eines politischen Aktivisten eröffnet wurde, sollte auf diesen Umstand Bezug nehmen, so der Gedanke. Das politische Tun von Yes Men vorzustellen und dabei dennoch den politisch aufgeladenen Status des Ortes einzubringen, sollte erstens das Faken (Martin Doll, Widerstand im Gewand des Hyper-Konformismus. Die Fake-Strategien von ‚The Yes Men’, 2008, mdoll.eu/publikationen_cc/MDoll_Yes_Men.pdf als Königsdisziplin von Yes Men genutzt und angepasst werden. Es wurde gleichsam in einer Verdopplung getoppt, indem Igor Vamos umstandslos als neoliberaler Mike Bonanno vorgestellt und damit die Aufmerksamkeit der Zuhörer_innen auf die Probe gestellt wurde. Zweitens sollte eine kahlgeschorene Barbie-Puppe die Bedeutung des Ortes herausstellen und zugleich ein Kommentar zur latenten Leichtfertigkeit sein, diesen zu nutzen. Die Wahl fiel auf die Barbie-Puppe, da Igor Vamos 1993 als Barbie Liberation Organization die für das Sprechen von Barbie-Puppen (fondation-langlois.org) und GI-Puppen Joe verantwortliche Elektronik austauschte (fondation-langlois.org/html/e/media.php?NumObjet=1770), um profitsüchtige Geschlechtszuschreibungen zu entlarven (www.youtube.com/watch?v=DzTWF1jVwH4). „Fortan bellte die schöne Blonde im Kasernenhof-Ton eines Feldwebels.“ (info.arte.tv/de/yes-men-die-kommunikationsguerilleros). Im Duktus der Methodologie der Provokation von Yes Men sollte die Barbie-Puppe im Rittersaal die leichtfertige Nutzung des Ortes einspielen und zugleich eine Verneigung vor den Opfern des Nationalsozialismus symbolisieren. Dieser Teil der interventionistischen Vorstellung von Igor Vamos wurde allerdings in der Situation der Vorstellung unmöglich und ad hoc im Geschehen modifiziert.
Die Ereignisse werden hier nun zum Anlass genommen, über die technologischen Bedingungen künstlerischer Interventionen im Ansatz von Yes Men und deren ambivalente Produktivität in digitalen Kulturen zu reflektieren und deren Opfern eine kleine, rituelle Genugtuung zuteil werden zu lassen.
Ins Zentrum der Analyse rückt ein Gedankenexperiment. Die Interventionen der Yes Men sollen nämlich vor der Folie einer theoretischen Erfassung digitaler Kulturen als Geheimnis-Kulturen betrachtet werden, die Claus Pias (Vgl. Claus Pias, Vortrag: Connectives, Collectives and the ‘Nonsense’ of Participation, Zürich Mai 2014 vimeo.com/96904296) vorgelegt hat. Wenn deren technologische Konstitution nicht mehr durchschaut werden kann und sie unabhängig von Menschen operieren, wie können dann, so die Frage, politische Öffentlichkeit und Partizipation aussehen und welchen Beitrag leisten die Interventionen der Yes Men dazu. Es wird sich zeigen, dass aus Partizipation Rituale und rekursive Operationen werden und statt in die so genannte Wirklichkeit einzugreifen, akribisch eine eigensinnige und konnektive Medien-Wirklichkeit gebaut wird, die insofern am nicht-verratbaren Geheimen partizipiert, als die Handelnden selbst nicht wissen, was je geschehen wird.
Vorstellung Martina
Überreichung der Barbie
Ausschnitt aus Grußwort des Präsidenten
Beerdigung der Barbiehaare
Diese Analyse bildet zudem den Hintergrund, aus dem heraus die Methoden für die Vorstellung von Igor Vamos im Rahmen seiner Keynote bei der Konferenz „Terms of Media“ entwickelt wurden. Ähnlich wie die Aktionen der Yes Men löste die Vorstellung von Vamos auf der Konferenz eine Kette von vorher nicht absehbaren Effekten und weiteren Aktionen aus, die hier vorgestellt und im Kontext interventionistischer Machtspiele in digitalen Kulturen analysiert werden sollen. Dabei werden sie als eine Option ausgelegt, Interventionen in Interventionen zu erdenken und zu erproben, um deren konstitutive Rolle in digitalen Kulturen zu reflektieren und ihnen zudem andere Praktiken an die Seite zu stellen.
„Durch die extremen Zuspitzungen werden Problemstellen sichtbar, die aus dem marktliberalen Denken selbst resultieren und innerhalb seiner Eigenlogik zunächst widerspruchsfrei erscheinen.“
Grundlage der Über-Affirmation ist der Fake im Sinne einer möglichst genauen Imitation der Organisationen, in die interveniert werden soll. Nach Doll muss der Fake allerdings einen Überschuss(PDF, Doll, Fake als Intervention 2012, S. 221) erzeugen, will er überhaupt politisch wirksam werden, d. h. intervenierend eine Veränderung der Verhältnisse herbeiführen. Dieser Überschuss entspricht den Effekten der Über-Affirmation, denn durch sie werden, so Doll: „übliche Argumente über die Logik des freien Marktes so radikalisiert, dass sie für die involvierten Firmen kontraproduktiv werden.“ (PDF, Doll, Fake als Intervention 2012, S. 221) Derart führt die Über-Affirmation zur von Yes Men so genannten Identitätskorrektur (PDF, Doll, Fake als Intervention 2012, S. 219–221), weil mit Hilfe des gefakten Fanatismus der intervenierenden Performer die verborgenen oder nicht allzu deutlich herausgestellten Ziele einer Organisation sichtbar würden. Mit Doll lässt sich für die Yes Men konstatieren: als „hyperkonforme, amoralische und menschfeindliche Fanatiker […] werden sie dann im(Kursiv im Originaltext, M.L.) System der Kommunikationsbeziehungen der repräsentierten Organisationen und Firmen zu deren Widersachern.“ (PDF, S. 222)
Die Wirkungen der Interventionen bestehen nun weniger in einer grundlegenden Veränderung liberaler Marktwirtschaft oder in der Auflösung von Konzernen. Sie bedingen vielmehr, dass ein Thema oder die Machenschaften einer Organisation mehr Aufmerksamkeit erhalten und in die Öffentlichkeit gedrängt werden. Ein probates Beispiel dafür ist das Dow-Bhopal-Projekt, das 2004 durchgeführt wurde. An ihm zeigt sich paradigmatisch das von Doll so bezeichnete Prinzip des Zugzwangs (PDF, Doll, Fake als Intervention 2012, S. 219, 227–230), das er als zweite Methode der Interventionen von Yes Men anführt. Dieser Zugzwang entsteht u. a. durch ein Geflecht von über Medien verteilten Verlautbarungen.
Die Intervention zu Bhopal begann 2002 mit einer von Yes Men bis ins kleinste Detail gefakten Website von Dow Chemical. Dow Chemical hatte 2001 Union Carbide (UC) übernommen, in deren Chemiefabrik in Bhopal zur Herstellung von Pestiziden es 1984 einen schweren Unfall gab, da u. a. auf Grund mangelnder Wartung Methylisocyanat aus einem Tank in die Atmosphäre entwich. Bei dem Unfall starben nach Schätzung 3.800 bis 25.000 Menschen und es kam zu einer bis heute andauernden Vergiftung der Umwelt, vor allem des Grundwassers. Die Opfer wurden von Union Carbide minimalst entschädigt und Dow Chemical lehnt seit der Übernahme jegliche Verantwortung für den Unfall und dessen Spätfolgen ab. Vor diesem Hintergrund geben Yes Men als Grund für die Erstellung der gefakten Site von Dow Chemical an:
„Dow claims the company inherited no liabilities for the Bhopal disaster, but the victims aren’t buying it, and have continued to fight Dow just as hard as they fought Union Carbide. That’s a heavy cross to bear for a multinational company; perhaps it’s no wonder Dow can’t quite face the truth. The Yes Men decided, in November 2002, to help them do so by explaining exactly why Dow can’t do anything for the Bhopalis: they aren’t shareholders. Dow responded in a masterfully clumsy way, resulting in a flurry of press.”
Die BBC, die eine Sendung zum 20. Jahrestag des Unglücks in der Chemie-Fabrik in der indischen Stadt plante, lud nun 2004 über eine auf der weiterhin existierenden gefakten Website hinterlegte Mailadresse einen vermeintlichen Repräsentanten von Dow Chemical zu einem Interview ein. Jacques Servin aka Andy Bichlbaum schlüpfte in die Rolle des fiktiven Repräsentanten der Dow, Jude Finisterra, und verkündete live im Fernsehen:
“I am very, very happy to announce that for the first time, Dow is accepting full responsibility for the Bhopal catastrophe. We have a $12 billion plan to finally, at long last, fully compensate the victims, including the 120,000 who may need medical care for their entire lives, and to fully and swiftly remediate the Bhopal plant site.”
Es wird nicht nur die Entschädigung, sondern auch die Auflösung von Union Carbide angekündigt:
“We’ve begun the process of liquidating Union Carbide. This is, as you mention, late. But it’s the only thing we can do. When we acquired Union Carbide we did settle their liabilities in the United States immediately, and we are now, three years later, prepared to do the same in India. We should have done it three years ago; we are doing it now. I would say that it’s better late than never, and I would also like to say that this is no small matter, Steve: this is the first time in history that a publicly held company of anything near the size of Dow has performed an action which is significantly against its bottom line simply because it’s the right thing to do.”
Diese Sendung konnte weltweit zwei Stunden ungehindert ausgestrahlt werden, bevor die Täuschung von Dow aufgedeckt wurde. Bevor allerdings der Konzern selbst ein öffentliches Statement abgeben konnte, erschien ein von Yes Men gefaktes, in höchstem Maße zynisches und in der Über-Affirmation die menschenverachtenden, marktwirtschaftlichen Haltungen von Dow bloßstellendes Dementi, in dem Dow vermeintlich klarstellte:
“As Dow has repeatedly noted, Dow cannot and will not take responsibility for the accident. […] Dow will NOT commit ANY funds to compensate and treat 120,000 Bhopal residents who require lifelong care. The Bhopal victims have ALREADY been compensated; many received about US$500 several years ago, which in India can cover a full year of medical care. […] Dow will NOT remediate (clean up) the Bhopal plant site. We do understand that UCC (Union Carbide Corporation, Anmerkung M.L) abandoned thousands of tons of toxic chemicals on the site, and that these still contaminate the groundwater which area residents drink. Dow estimates that the Indian government’s recent proposal to commission a study to consider the possibility of proper remediation at some point in the future is fully sufficient.”
Die BBC wiederum entschuldigte sich für ihre unwissentlich gemachte Falschmeldung:
“The individual was contacted by the BBC, and during a serie of phone calls, claimed, that there would be a significant announcement to be made on behalf of the Dow Chemical company. He gave no further detail until the live interview, broadcast from the BBC’s Paris bureau this morning. […] This interview was inaccurate, part of an elaborate deception. It is now clear that the person did not, in fact, represent the Dow company and we want to make clear that the information he gave was entirely inaccurate.”
Innerhalb der zwei Stunden, in denen der Fake zunächst um die Welt ging, fielen die Kurse der Dow-Aktie in den Keller. In ihrem Film „The Yes Men fix the world“ stellen Yes Men die Vermutung an, ein Grund dafür sei, dass die Vertreter des Finanzmarktes nicht mit einer Firma kooperieren wollten, die derart viele Menschenleben zu verantworten habe. Yes Men zeigten sich verwundert darüber, dass eine „gute“ Tat auf dem Finanzmarkt negative Auswirkungen haben konnte, statt von ihm belohnt zu werden.
Dieses System miteinander verquickter Aktionen und Reaktionen entspricht dem von Doll vorgeschlagenen Prinzip des Zugzwangs, zu dem er ausführt:
„Die Wirkung verpuffte somit nicht durch die Aufdeckung, weil die appropriierten Institutionen in Zugzwang gerieten, die Falschmeldung zu korrigieren und das dem eigenen Image abträgliche und daher unausgesprochen gebliebene Eingeständnis zu veröffentlichen, über die bereits gezahlten Kleinbeträge hinaus keine weiteren finanziellen Mittel bereitzustellen. […] Die Massenmedien sind vor diesem Hintergrund nicht als erratische Blöcke, von denen Macht ausgeht, sondern selbst als gewissen Einschränkungen unterworfene Institutionen zu verstehen […]. In diesem Sinne gelingt es den genannten Fakern durch ihre Aktionen, in einem hohen Maße Macht auf die Massenmedien einzuüben: Jene müssen zunächst bei den noch ‚originalen’ Fälschungen, den buchstäblich unglaublichen Ankündungen, bezeichnenderweise aber vor allem nach der Aufdeckung ihrer eigenen Logik der Nachrichtengenerierung folgen, über das skandalöse bzw. das kuriose Geschehen berichten und sich so on einem gewissen Maße im Rahmen der Strategien der Faker bewegen.“
Das System des Zugzwangs ist also nicht linear oder kausal strukturiert. Interventionen sind vielmehr in ein komplexes System aus unterschiedlichen „Akteuren“ eingelassen, die jeder für sich einem Zugzwang unterliegen und sich dabei als komplexes Ganzes wechselseitig konstituieren.
„[…] behandelt (Patienten, Einfügung M.L), egal, ob ihre gesundheitlichen Probleme von der Gas-Katastrophe oder der Wasserverseuchung herrühren. Andere Krankenhäuser in Bhopal, etwa das mit Geldern der UCC-Kompensation erbaute Bhopal Memorial Hospital, machen da einen klaren Unterschied: Gas-Opfer werden kostenlos behandelt, Wasser-Opfer nicht. Zur Verantwortung für die Gas-Katastrophe hat sich UCC mit der Kompensationsregelung bekannt, zur Verantwortung für die Wasserverseuchung nicht.“
Interventionen könnten mithin bei genauerer Kenntnis der Organisation und Verwaltung der Betroffenen in Bhopal präziser ansetzen und damit einer marktwirtschaftlich vereinnehmbaren Entschädigungslogik entgehen.
Der Ansteckungseffekt zeigt sich schließlich auch daran, dass diese Bhopal-Aktion der Yes Men hier noch einmal ausführlich geschildert wird, obwohl sie bereits an vielen Stellen umfänglich beschrieben worden ist, so dass die Details und Zusammenhänge hinlänglich bekannt sind. Der Zugzwang erstreckt sich also bis hin in die wissenschaftliche Arbeit, denn es ist lustvoll ob der Verquickung der Ereignisse, diese zu rekonstruieren und dabei so zu pointieren, dass ein Textfluss entsteht. Damit zeigt sich, dass die wissenschaftliche Analyse Teil des Systems des Zugzwanges sowie der Ansteckung ist und als solcher zur Erzeugung sowie zur Wirksamkeit der Interventionen durch die fortlaufende Erzählung ihrer Abläufe, Logik und Zusammenhänge beiträgt; wobei Variationen in den Erzählungen ein gleichsam originärer Beitrag dieses Systems des Zugzwangs durch die wissenschaftlichen Analysen sind. Aus diesem Umstand wird sich u. a. die Ambivalenz der Interventionen herausarbeiten lassen, die sich vor allem aus der Lust am Wiederholen und operativen Verketten zu konstituieren scheint.
Diese Schattenseite der Intervention taucht in der Auseinandersetzung mit ihr immer wieder auf. Yes Men haben, so kann es scheinen, darauf reagiert und in ihrem Film „Yes Men regeln die Welt“ von 2009 eine eigene, hochgradig inszenierte kritische Auseinandersetzung (timeline: 16:51–37.33) mit der Wirkung ihrer Aktion bei der Bevölkerung in Bhopal vorgenommen. Im Film wird von einem Besuch der Yes Men am Ort des Unglücks erzählt und es werden freundliche Versöhnungsszenen gezeigt (Abb. 1). Das vor Ort gelebte Leid wird mit den Zielen des Fake, Öffentlichkeit zu schaffen, konfrontiert und letzteres als hilfreich und erfolgreich eingestuft.
Während Yes Men auch bei dieser Aktion eher den größeren Kontext im Auge haben, nämlich den Handel mit Wasser in einer marktliberalistischen Ökonomie, dürfte für die Menschen vor Ort das tägliche Überleben im Vordergrund stehen. Dieses beschreiben Dirk Peitz und Alex Masi in ihrem Artikel in der „Welt“:
„Da liegt wirklich Gift unter dem Teich. Untersuchungen sowohl indischer Behörden als auch von Greenpeace International haben die Belastung des Bodens und des Grundwassers auf dem ehemaligen UCIL-Gelände und darum herum wiederholt und zweifelsfrei dokumentiert. Giftiges Quecksilber findet sich dort und Rückstände längst vergessener Ur-Insektizide wie Lindan und DDT, die mutmaßlich vor Beginn der Sevin-Produktion im Werk Bhopal verarbeitet wurden. Das entdeckte Chloroform und Tetrachlormethan wiederum könnte ein Überbleibsel der Sevin-Produktion sein. Die restlichen Funde in Boden und Grundwasser klingen nach Altmetallsammlung: Blei, Nickel, Kupfer, Chrom, Cadmium. Art und Grad der Kontaminierung variieren, je nachdem, wo genau die Proben genommen wurden. Doch fast überall werden jegliche erdenklichen internationalen Gesundheits- und Umweltstandards verletzt. Niemand, kein Mensch und kein Tier, sollte dieses Wasser aus diesem Boden trinken.“
Es gibt in den Bemühungen um Bhopal eine Seite der Interventionen, die Medien, Fake, Performance und Symbolik perfekt beherrscht. Dies zeigt sich deutlich an einer kleinen Dokumentation über das Designen der Flaschen für B’EAU PAL (Abb. 1). Akribisch werden Zeichen aus der medialen Präsenz von den Erzählungen zu Bhopal zusammengesetzt. Der Französisch imitierende Name des Wassers „B’EAU PAL“ klingt wie Bhopal; die Form der Flasche, eine altmodische Glasbügelflasche, spielt auf exquisite Behältnisse für gesundes Quellwasser aus den Bergen an; es werden die Inhaltsstoffe aufgeführt, die den Analysen vom verseuchten Grundwasser aus Bhopal entsprechen. Das Logo schließlich entwendet das von Dow Chemical, das wiederum in Teilen vom Bhopal Medical Appeal genutzt wird, eine Stiftung, die die Klinik von Sarangi in Bhopal mit finanziert. Teil des Logos ist eine Grafik der „Skyline“ der Ruinen auf dem Gelände der Chemiefabrik in Bhopal. Die Herstellung der Flasche sowie die Aktionen mit dem Wasser sind umfänglich im Internet dokumentiert. Auf der anderen Seite steht ein Aktivismus, der sich einer medialen Präsenz entzogen sieht. Von dieser berichtet Hartosh Singh Bal, 2013 entlassener Autor für politische Berichterstattung im Open Magazin in einer Ausgabe 2009:
“Bhopal itself has two prominent organisations working for the victims. While both have moved the court in several cases to seek relief and justice, on the ground they operate in very different fashions. The Bhopal Gas Peedit Mahila Udyog Sangathan, led by Abdul Jabbar, focuses on helping the victims in their daily quest for medical help. The other, the Bhopal Group for Information and Action, led by Satinath Sarangi, focuses on efforts to inform the outside world of what is unfolding in Bhopal. […] Abdul Jabbar is a man who speaks little or no English, his organisation has very little presence on the Web, yet for the victims, he is the only one who can help out with their daily struggle. Satinath Sarangi is fluent in English, hosts a website that provides detailed information on every aspect of the tragedy and is the link between Bhopal and the outside world. His work in Bhopal is limited to an ayurvedic dispensary.”
Während Satinath Sarangi TED-Vorträge hält, gibt es von Abdul Jabbar ein Interview in Hindi und gebrochenem Englisch online. Dirk Peitz schreibt in der „Welt“:
„Es sind über die Jahre Friktionen entstanden unter den Helfern in Bhopal. Es geht ganz sicher um die Deutungshoheit über die Probleme dort, deren Ursachen und Beseitigung. Es geht, wenn man es nicht besonders gut meint mit denen, die sagen, dass sie es gut meinen, wohl vor allem auch um Aufmerksamkeit und letztlich um Geld. Die Sambhavna Clinic wird finanziert von der britischen Spendenorganisation Bhopal Medical Appeal, für die Colin Toogood von seinem Arbeitszimmer in London aus die Öffentlichkeitsarbeit macht. Damit die Welt Bhopal nicht vergisst. Und natürlich auch weiter spendet. Abdul Jabbar hingegen sagt, er nehme kein ausländisches Geld an. Es gibt unter den Helfern nicht nur Meinungsverschiedenheiten über die richtige Art der Hilfe, sondern auch über die richtige Art der Finanzierung.“
Mit Hartosh Singh Bal wäre hinzuzufügen:
“The victims themselves can hardly raise money to support the organisations working in Bhopal, funds flow in from outside and they do not flow equitably. Thanks to patrons such as Greenpeace and Indra Sinha, Satinath is flush with funds, Jabbar has none. The money from the outside world goes mainly towards providing more information on Bhopal to the outside world while the man whose help the victims most need is left bereft.”
Yes Men geht es, wie sie immer wieder betonen, mit ihren Interventionen darum, Aufmerksamkeit zu erzeugen, um auf Probleme eines neoliberalen Regimes des Marktes zu verweisen und möglichst in dieses zu intervenieren. Damit geraten sie allerdings, sicher ungewollt, in einen Sog medialer Aufmerksamkeits-Ökonomien sowie der Performativität ihrer eigenen Methoden. In diesem Sog kreieren Yes Men erst eine bhopalische Wirklichkeit sowie deren Wiedererkennbarkeit durch eine Kette von Symbolisierungen, wie die symbolische Vernetzung von Internetseiten zu einem kulturellen Gedächtnis in den Aktionen um B’EAU PAL zeigt. In diesem Spiel mit Symbolen und Aufmerksamkeitsökonomien wird das Engagement für Bhopal auch immer Teil der Werbung für die Filme der Yes Men sein. Ein Effekt der mit den Interventionen ausgelösten medialen Aufmerksamkeits-Ökonomie ist zudem, dass: „Je mehr Kameras (anwesend sind, Einfügung M.L.), desto größer (werden, Einfügung M.L.) die Versprechen“ (hier). Das heißt, die intervenierend erzeugte Öffentlichkeit bedingt vermarktbare Statements, aber keine konkreten Hilfeleistungen. Dazu noch einmal Hartosh Singh Bal:
“If you want the truth, don’t pay attention to those who parachute in for a day or two or those who claim to understand Bhopal from London, don’t even take my word for any of this. Go to Bhopal armed with a knowledge of Hindi and see for yourself. Allow yourself a month or two in the city to see how the victims who cannot obtain the medicine they need are helped by a story on the front page of the New York Times or a book on the Booker shortlist. Perhaps, you will also come to know why they remain sceptical of the hordes from outside who will descend to feast on another anniversary.”
Für die Interventionen aber steht vor allem eine sie vorantreibende, eigene Logik zwischen Fake, medialer Präsenz und Aufmerksamkeit im Vordergrund, statt die reellen Situationen, wie 2009 in The Week beschrieben wurde:
“The Yes Men have capitalised on the realisation that stunts, hoaxes, gimmicks and jokes like these are increasingly the tactics that can gain widespread attention for a cause, and are probably now more effective than getting chained to a lamppost or going on hunger-strike. They exploit the fact that performance protest is popular because it’s non-violent, theatrical, photogenic, funny—and perhaps most importantly—memorable. So it divides the good guys very neatly from the bad guys, for both the media and the chattering public.”
Warum die Methoden der Yes Men zu einer lustvollen und lustigen Selbstbezüglichkeit mit der unaufhaltsamen Dynamik einer Eigenlogik führen, ließe sich mit Martin Doll erklären:
„Die genannten Handlungsspielräume sind jedoch nicht explizit vorgegeben; sie werden unter anderem durch die genannten Aktionen überhaupt erst performativ erschlossen. Es sind also […] Praktiken, die sich zwar in bestimmte Diskursgegebenheiten einschalten und sich diese zunutze machen, die aber den Zwischenraum, den quasi-legalen Freiraum, in dem sie sich abspielen, nicht vorfinden, sondern erst in actu (Kursiv im Original, Anmerkung M.L) eröffnen, indem sie ihn tatsächlich beschreiten.“
Politisches Handeln und kritische Reflexion werden zur Performance.
Dabei werden die Menschen, die weiterhin vergiftetes Wasser trinken oder Kinder mit massiven gesundheitlichen Schäden im Arm tragen, zum fotogenen Beiwerk. Es wird also nötig sein, die Mechanismen der Macht sowie digitaler Kulturen zu rekonstruieren, die in den Interventionen entstehen, um auch in diese intervenieren zu können.
Machtbeziehungen entstehen gleichsam a priori in freiheitlich organisierten Gesellschaften, da, so Martin Doll (Widerstand im Gewand des Hyper-Konformismus. Die Fake-Strategien von „The Yes Men“, Schliengen 2008), jede Gruppierung auf das Handeln anderer einwirken wolle. Foucault spricht von einem Handeln auf Handlungen, denn Machtausübung:
„[…] ist ein Ensemble von Handlungen in Hinsicht auf mögliche Handlungen; sie operiert auf dem Möglichkeitsfeld, in das sich das Verhalten der handelnden Subjekte eingeschrieben hat; sie stachelt an, gibt ein, lenkt ab, erleichtert oder erschwert, erweitert oder begrenzt, macht mehr oder weniger wahrscheinlich; im Grenzfall nötigt oder verhindert sie vollständig; aber stets handelt es sich um eine Weise des Einwirkens auf ein oder mehrere handelnde Subjekte, und dies, sofern sie handeln oder zum Handeln fähig sind. Ein Handeln auf Handlungen.“
Jedes widerständige Verhalten ist damit eine Fortsetzung dieser Machtbeziehungen, das die Sicherung der Machtausübung garantieren soll. Es kommt mithin zu einem Machtspiel, dem nicht zu entkommen ist. In diesem Spiel sind auch Yes Men nicht frei von Machtausübungen, im Gegenteil, sie werden zu dessen integralem Bestandteil und erzeugen es erst mit, wie sich etwa am Handeln in Zugzwang der Medien sowie von Dow zeigt. Effekt ist nach Doll:
„[…] Yes Men können in Bezug auf Machtbeziehungen neben dieser Erschließung von Freiheitsräumen und der Sichtbarmachung bestimmter Strukturen zwar nur minimale Umgestaltungen, Image-Korrekturen und Verschiebungen im öffentlichen Verständnis des organisierten Welthandels sein, aber damit dennoch den Boden für weitere mögliche Transformationen bereiten. […] Das experimentell erlangte Wissen um diese Macht- und Kommunikationsbeziehungen erschließt somit Ansatzpunkte möglichen Widerstands, setzt einen Agonismus in Kraft, indem ein Horizont möglichen Handelns und Handels aufgespannt wird.“
Mit Foucault folgert Doll:
„’Die Machtbeziehungen zum Erscheinen zu bringen, heißt, so wie ich es verstehe, auf jeden Fall zu versuchen, sie gewissermaßen wieder in die Hände derer zu legen, die sie ausüben.’“
Diese Rückgabe entspricht nicht einer Befreiung deren, die zum Handeln gebracht werden, sondern vielmehr werden mit ihr wohl die Wechselspiele klarer, in denen mal der Eine und mal der Andere Macht ausübt.
Ein Aspekt im Machtspiel mit Interventionen ist zudem die Verwertungsökonomie neoliberaler Kulturen, die sich, so der aktuelle Diskurs (Jürgen Riethmüller. (Wann) Soll politischer Aktivismus als Kunst anerkannt werden? 2013, S. 17), dadurch auszeichnen, dass sie nicht mehr verbieten oder ausschließen, sondern Handlungen, auch Widerständige, in Positives wenden und so selbsttechnologisch und ökonomisch vereinnahmen.
„Denn, noch einmal, das Machtspiel ‚funktioniert […] auf der Basis einer Fiktion, einer nicht realisierten zweiten Realität’ (Luhmann 2000: 47). Damit befindet man sich auf dem ureigenen Feld der Kunst: dem der Fiktion; hier kann sie besser ansetzen als die ‚direkte Aktion’, die meist nur die eigene Machtunterlegenheit reproduzieren wird. Denn die Macht will beispielsweise ihre negative Alternative, die Machtdrohung, in der Regel nicht realisieren, will unsichtbar bleiben, […] Die Polizei darf erscheinen, aber sie sollte nicht genötigt sein, zuzupacken.“
Effekt dieser Konstitution von Machtbeziehungen, die sich aus der Mitführung des Fiktiven als zweiter Realität konsolidieren, ist, so Riethmüller weiter, eine „gesteigerte Symbolizität“:
„[…] in Luhmanns Worten: ‚Das Ausschließen des anwesenden Ausgeschlossenen erfordert laufende symbolische Anstrengungen. […] Gesteigerte Symbolizität […] bedeutet auch gesteigerte symbolische Empfindlichkeiten. Die Macht darf sich keine erkennbare Schlappe leisten, weil dies Konsequenzen hätte, die über den Einzelfall hinausgehen.“
Diese Lücke, so Riethmüller, nütze nun die künstlerische Intervention, um das Ausgeschlossene sichtbar zu machen:
„In jedem Fall gilt aus Sicht der AktivistInnen, dass die Macht als Medium des Politischen ein prinzipiell offener Möglichkeitsraum ist, und gerade an diesem Punkt bietet die Kunst einen wichtigen, oft genug den einzigen Weg einer Intervention.“
Im Gegensatz zu Riethmüller soll die „gesteigerte Symbolizität“ hier nun allerdings in einer anderen Weise ausgelegt werden. Denn das Mitführen des Fiktiven sowie dessen Ausnutzung bilden nicht nur das Einfallstor für politische Interventionen. Sie bedingen zudem eine Überhitzung der Symbolempfindlichkeit, die die treibende Kraft im Machtspiel der Yes Men und der Akteure ist, die sich daran beteiligen oder beteiligt werden. Es entsteht eine gesteigerte Aufmerksamkeit für mögliche gefakte Ereignisse (Fake à la Yes Men?), wie 2011 der Fall von Alessio Rastani zeigt:
„Rastani hatte am Montag mit der Aussage einen Sturm der Empörung ausgelöst, er träume von einer neuen Rezession und die US-Investmentbank Goldman Sachs regiere die Welt. Die meisten seiner Kollegen scherten sich nicht darum, welche Pläne Politiker als Ausweg aus Krisen schmiedeten, versicherte Rastani. Ihr Job sei es schlicht, daraus Kapital zu schlagen. Als der BBC-Moderator ihn schockiert anschaute, ergänzte Rastani: ‚Die Regierungen beherrschen die Welt nicht. Goldman Sachs regiert die Welt.’“
Es wurde schnell vermutet, dass Yes Men hinter dem Event stecken könnten, wie der „Spiegel“ berichtet:
„Rasch wurden jedoch Zweifel an Rastanis Identität laut. Mit seinen gegelten Haaren, der rosafarbenen Krawatte und den zynischen Sprüchen war er geradezu die Karikatur des geldgierigen Traders. Auf Twitter wurde spekuliert, ob er vielleicht einer der ‚Yes Men’ sei, einer Gruppe von Spaß-Aktivisten, die sich mit falscher Identität auf Konferenzen und ins Fernsehen schleichen. Die ‚Yes Men’ dementierten dies, zogen aber ihren Hut vor Rastani und gratulierten ihm zu seiner ‚meisterhaften Performance’.“
Auf ein unklares Ereignis, das durch ihre Methode des Fakens erst möglich wurde, antworten Yes Men mit Affirmation und damit mit einer Vereinnahmung.
Es lässt sich zusammenfassen, dass mit dem Machtspiel ein eigenes Regime entsteht, das seine Anhänger ebenso in eine Hab-Acht-Stellung drängt wie Konzerne und Medien. Es entsteht ein selbstbezügliches System, das u. a. durch die Interventionen von Yes Men erzeugt wurde und sich als Machtspiel selbst genügt. Die Interventionen schaffen mithin nicht a priori einen Möglichkeitsraum für Kritik an und Analysen von Machtbeziehungen. Sie erzeugen Machtbeziehungen vielmehr erst, die deren Durchbrechung und Störung erschweren. Denn das Machtspiel funktioniert eigenwillig, da eine Aktion in der Logik der im Zugzwang verkoppelten Akteure weitere Schritte nach sich zieht. Es geht mithin um ein Spiel im Format einer selbstbezüglichen Operationskette.
„Es wurde gezeigt, dass die subversiven Strategien, die der medialen Praxis in Kunst und Aktionismus zugeschrieben werden, auch in Politik und Werbung angewandt werden, um Aufmerksamkeit für Themen und Botschaften zu erregen. Das Subversive dient hier lediglich als eine Technik der Kommunikation, des Transportes von Botschaften von Sendern zu Empfängern. Die Botschaft selber ist austauschbar. Mit der Entwicklung subversiver Strategien zur Kommunikation von Inhalten wird das kulturelle Reservoir dieser Praktiken erweitert. Das Subversive ist also nicht bei jenen zu lokalisieren, die mit dem Subversiven assoziiert werden, sondern bei all jenen, die subversive Strategien anwenden. Die Ästhetik und die Kommunikationsstrategien des ‚Hacktivismus’, der ‚Culture Jammers’ oder der ‚Kommunikationsguerilla’ haben sich als wenig resistent gezeigt gegenüber der Inkorporation in die Kulturindustrie. Anstatt die Zeichen zu entstellen, wie Barthes es noch forderte, muss die Subversivität von Kommunikationsstrategien selbst entstellt werden, um sie so wirkungslos werden zu lassen.“
An dieser Stelle soll es nun vielmehr darum gehen zu zeigen, wie Interventionen im Stile der Yes Men mit Fake, Performance, (Über-)Affirmation und strategischer Mediennutzung an der Konstitution digitaler Kulturen unter Verwendung von deren technologischen Möglichkeiten mitwirken. Interventionen heißt das, werden zu Rate gezogen, um eine schwache Phänomenologie digitaler Kulturen, insbesondere bezogen auf politische Öffentlichkeit und Partizipation zu skizzieren.
Zur genaueren Bestimmung des Geheimnisses in digitalen Kulturen unterscheidet Claus Pias (mit Timon Beyes: „Debatte: Transparenz und Geheimnis“, in: Vorstellungskraft, Zeitschrift für Kulturwissenschaft, 2/2014) das Mysterium als nicht-wissbares und nicht-sagbares Geheimnis, wie es der Kosmologie oder dem vormodernen Souverän zukäme, deren Gründe auf Immer im Verborgenen liegen, von Secreta, die transparent gemacht werden können. Das Mysterium als konstitutives Nicht-Verstehen sei es nun, so Claus Pias, dass das digitale Arkanum konstituiere. Wenn es also darum geht zu verstehen, welche Bedeutung Interventionen im Stil von Yes Men für dieses Arkanum haben, dann müsste bei ihnen ein Mysterium auszumachen sein. Yes Men scheinen auf den ersten Blick allerdings zur Kategorie der Secreta zu zählen, da sie mit dem Fake ein Geheimnis schaffen, das auf die Aufdeckung und sein Verraten-Werden hin angelegt ist. Die Ausgangsthese ist hier nun aber, dass die Interventionen ein digitales Mysterium bilden, da man ob ihrer Performativität nicht weiß, was geschehen ist oder geschehen wird. In diesem Mysterium ist der Fake konstitutives Momentum und Motor, da er eine komplexe Struktur der Interventionen ermöglicht, in der ein Fake immer einen anderen aufruft und letztlich nicht herauskommen kann, wo der Fake beginnt und wo er endet. Wo digitale Kulturen nach Claus Pias (mit Timon Beyes: „Debatte: Transparenz und Geheimnis“, in: Vorstellungskraft, Zeitschrift für Kulturwissenschaft, 2/2014) im Mysterium der nicht-verstehbaren Datenverarbeitung zu sich kommen, entsprechen die Interventionen der Yes Men deren Performance. Diese greift nicht kritisch in digitale Bedingungen ein, sondern ist vielmehr an deren Konstitution beteiligt.
Yes Men erweisen sich nun aus drei Gründen als probates Beispiel für dieses Gedankenexperiment der Untersuchung digitaler Kulturen als Arkanum. Sie operieren erstens über das Faken in einem Universum von Geheimhaltung und Aufdeckung. Das Geheimnis wird dabei zu einem notwendigen Bestandteil einer eigenlogischen Operationskette. Es wird auf diese Weise technisch und als solches unabdingbar. Zweitens können die Interventionen von Yes Men als paradigmatisch dafür gelten, wie politische Öffentlichkeit und Partizipation im digitalen Arkanum hergestellt werden. Die Sphäre des Politischen, Gemeinschaft und Partizipation, wandelt sich dabei zu rekursiven Performances sowie zu einem Regime der Beschämung (Jennifer Jacquet, Scham. Die politische Kraft eines unterschätzten Gefühls), die an die Stelle von Transformationen und Veränderungen durch politisches Handeln treten. An den Interventionen wird schließlich drittens deutlich, dass und wie digitales Nicht-Verstehen in Interventionen produktiv gemacht wird, indem es durch die medial vernetzten Aktionen retrospektiv in eine kohärente Erzählung überführt wird.
In der Analyse der Machtbeziehungen hatte sich bereits angedeutet, dass mit den Interventionen von Yes Men durch das Prinzip des Zugzwangs (Martin Doll) ein machtvolles und eigensinniges System entsteht. Entscheidend ist nun, dass aus diesem Prinzip nicht nur Formen der Machtausübung hervorgehen, sondern auch die Verfasstheit von Wirklichkeit in digitalen Kulturen erzeugt wird. Wenn Yes Men nämlich für sich in Anspruch nehmen, dass sie das „wahre“ Gesicht von Konzernen und Marktliberalismus zeigen würden, so wird dieses nicht abgebildet oder aufgedeckt, sondern im System des Zugzwangs erst hergestellt, in das die unterschiedlichen Akteure, darunter die Darsteller von Yes Men selbst, verstrickt werden. Unter den Bedingungen digitaler Technologien wird aus dem Zugzwang mithin ein System selbstbezüglicher Verkopplungen und Adressierungen von Daten im Web wie in der Wirklichkeit, in dem Geschichten über die Wirklichkeiten verteilt und gesichert werden.
Ein Erfahrungsbericht des aktivistischen Journalisten Marc Fischer (Nachruf von Dirk Peitz), der im April 2011 starb, von 2009 zeigt die hektische mediale Verkettung unterschiedlicher Wirklichkeitsmodi und Aktionen im Kontext eines Projektes mit den Survival Balls:
„Am nächsten Tag, zehn Uhr morgens, kommt es am Ufer des East River auf Höhe der 23. Straße dann doch noch zum Einsatz der SurvivaBall-Überlebensbälle, die sich die Aktivisten so gewünscht hatten. Etwa 20 von ihnen sind in die grotesken Kostüme geschlüpft, die von den Yes Men als Schutzanzug-Karikatur für gefräßige Manager-Typen entwickelt wurden. Darin könne ein Umweltzerstörer die Umwelt fröhlich immer weiter zerstören, weil ihm weder Feuer, Sintflut, Erdbeben noch Atomverseuchung gefährlich würden. Allerdings muss er dann auch rumlaufen wie ein grauer Teletubby. Ob die Bälle funktionieren oder nicht, werden die Aktivisten gleich herausfinden, denn sie sollen ins Wasser des East River wackeln und zum etwa einen Kilometer entfernten UN-Hauptquartier rüberschwimmen, wo die Führer der Staaten dieser Welt gerade zum bevorstehenden Klimagipfel von Kopenhagen tagen. Dort sollen sich die SurvivaBalls ein paar Spitzenpolitiker greifen und dazu bringen, endlich bindenden Verträgen zuzustimmen.
Gerade, als sie ins Wasser wollen, passiert das, was Andy sich am Vortag gewünscht hat: Drei Boote der Küstenwache blockieren die Bälle, von der Straße aus tönen Polizeisirenen, über uns kreist ein Hubschrauber mit Scharfschützen. Der einsatzleitende Sergeant erklärt, er habe gerade einen Notruf bekommen, in dem es sinngemäß hieß, 20 übergroße Zwiebeln ungeklärter Herkunft hätten sich ins Wasser des East River begeben. Ob Mr. Bichlbaum das irgendwie spezifizieren könne. ‚Wir testen unsere Überlebensbälle für die nahende Umweltkatastrophe’, sagt Andy. Er bleibt ganz ernst dabei, wie damals, als er bei der BBC Jude Finisterra war. ‚So so. Eine nicht angemeldete Demonstration und Störung also’, sagt der Polizist, lässt sich Andys Ausweis geben und verschwindet kurz im Wagen. Als er zurückkommt, nimmt er Andy fest. Es liege noch ein früherer Haftbefehl gegen ihn vor. ‚Welcher denn?’ fragt Andy. ‚Sie sind mal mit dem Fahrrad durch den Washington Square Park gefahren. Das ist verboten, dafür haben Sie ein Ticket bekommen und nie bezahlt.’ Ein Yes Man, der wegen falschen Radfahrens verhaftet wird – das ist so absurd, dass Andy zum ersten Mal an diesem Tag aus seiner Rolle fällt und lachen muss. Auch dann noch, als die Handschellen zuschnappen. Bevor der Sergeant ihn abführt, drückt mir Andy schnell seinen Fahrradschlüssel in die Hand; daran hängt auch ein USB-Stick mit Foto- und Filmdateien von dem Polizei-Einsatz. ‚Kümmerst du dich darum?’ Die nächsten 24 Stunden wird er in Haft verbringen, ein treuer Märtyrer der Bewegung. Ich blicke Andy kurz nach, dann nehme ich sein Mountainbike und fahre los, quer durch New York zu Mike, der schon im Büro auf den Stick wartet. Der Wind bläst mir ins Gesicht, ich springe über Kantsteine, an Menschen, Hunden, Autos vorbei, schneller, immer schneller.“
Diese Wirklichkeit digitaler Kulturen, speziell im Feld des interventionistischen Handelns, entspricht einer Organisation nach Operationsketten, in die all das eingebaut wird, was zufällig, unvorhersehbar und ereignishaft während der Aktionen geschieht. Die Abläufe sind schnell und geschehen in der Logik des performativen Regimes des Fakens, das Handeln und Aktion vor dem Nachdenken priorisiert. Das Zufällige und Ereignishafte der Interventionen entspricht deren Konstitution im Nicht-Verstehen, da Yes Men nicht genau wissen, was geschehen könnte und wie das einmal Begonnene weitergehen wird. Diesen Zustand kompensieren sie zugleich, indem sie aus den Versatzstücken dennoch nachträglich (!) eine Erzählung zusammenbauen und tradieren. Yes Men erscheinen derart als eine Art Polit-Performance, an die – wie früher an Clowns – delegiert wird, für ein Kollektiv technische Konnektionen mit symbolischen Bedeutungen zu belegen.
Die Aktionen der Yes Men zeigen, dass in vernetzten Infrastrukturen erstens Rekursion sowie Ritualisierung als Partizipation zu verstehen sind. Damit werden tradierte Vorstellungen von Partizipation abgelöst und solche von einer demokratisierenden Wirkung der Netwerke nicht eingelöst. Ritualisierung und Rekursion sprechen nämlich nicht für eine intentionale und autonome Subjektivität, die als Instanz politischer Öffentlichkeit im modernen Sinne vorausgesetzt wird, so Claus Pias (Vgl. Claus Pias, Vortrag: Connectives, Collectives and the ‘Nonsense’ of Participation, Zürich Mai 2014). Es greifen also nicht Subjekte als Akteure in politisch motivierte Aktionen ein, sondern eine eigene Logik der technisch gestützten Interventionen bestimmt die Lage in einem sich selbst organisierenden System. Im Hinblick auf Formen der Partizipation, die im Arkanum digitaler Kulturen aufkommen könnte, bestätigt sich bei den Interventionen der Yes Men die Vermutung von Claus Pias (Claus Pias, Vortrag: Connectives, Collectives and the ‘Nonsense’ of Participation, Zürich Mai 2014) somit, dass Rituale und ritualisierte Verhaltensweisen eine Rolle spielen könnten. Die Interventionen gelingen nämlich, so auch Martin Doll (Martin Doll, Spaßguerilla Über die humoristische Dimension des politischen Aktivismus 2012), wenn sie zunächst in den „ritualisierten Rede- und Präsentationstechniken“ (Ebda S. 86) des Imitierten stattfinden, wenn auch diese verzerrend. Doll schreibt weiter:
„Bei dem Fake geht es um ein zur Schau gestelltes, explizites Spiel nach den Diskursregeln, mit dem zugleich implizit und zunächst unerkannt gegen die Diskursregeln verstoßen wird.“
Derart werden zweitens Vorstellungen von Entscheidungssubjekten (Claus Pias, Vortrag: Connectives, Collectives and the ‘Nonsense’ of Participation, Zürich Mai 2014) fragwürdig und von Konzepten zur Organisation des Sozialen und Politischen als einer Operationskette von Ritualen abgelöst. Der Fake wird mithin zum Generator eines Subjektbegriffes aus der Ritualität, d. h. der Wiederholung von Handlungssettings, der jegliche Vorstellung von einer Intentionalität abhanden gekommen ist.
In dieser Logik kann dann auch das Faken nicht mehr intervenieren, da es Teil eines selbstbezüglichen Systems ist. Es kann immer nur dieses aufrechterhalten. Derart bestätigt das Faken den rituellen Rahmen, den es im Imitieren und Ausstellen zugleich erst erzeugt. In digitalen Kulturen heißt das, konstituiert sich Partizipation aus einer technologisch bedingten, rekursiven Ritualität.
„Durch unsere Einsicht beim Betrachten der Filmdokumente, dass sich die Kritikfähigkeit der einzelnen Beteiligten offensichtlich als sehr gering erwiesen hat, wird für uns ihr Aussagestatus generell zweifelhaft. Des Weiteren wird man mit der Frage konfrontiert, ob die menschenverachtenden Konsequenzen des buchstäblich unglaublichen zweckrational ökonomischen Zynismus, den die Yes Men zelebrieren, noch irgendwie komisch ist. Reflektiert man jedenfalls darüber, dass er weitestgehend unwidersprochen geblieben ist, wird zwangsläufig die Frage aufgeworfen, ob die mit den entsprechenden wirtschaftlichen Positionen verbundene Handlungsmacht bei solch ,irrational’ (re-)agierenden Personen, die Veranstaltungen organisieren, bei denen die Regeln des vernünftigen Denkens komisch außer Kraft gesetzt scheinen, in den richtigen Händen liegt.“
Weiteren Aufschluss über diese Form der Partizipation als Beschämung geben die Reaktionen der Zuschauer_innen, genauer der unfreiwillig an der Intervention Beteiligten. Ihre Reaktionen sind medial verbürgt sowie durch Exzerpte von Yes Men dokumentiert. Yes Men schreiben, hier zitiert nach Doll:
“Zuhörer: As I understood it, your risk assessorwill work out what is the human impact threat as opposed to how much money can you make on it. [… ] Whichever way you do this you’re going to cost some lives but if you make some money in the process then it’s acceptable (laughs).
Bichlbaum: Did you find that not, ah…
Zuhörer: No I thought it was refreshing actually.”
In den Nach-Erzählungen zu den Interventionen des Yes Men gilt es als ausgemacht, dass die Zuschauer_innen in neoliberalen Haltungen und Verhaltensweisen aufgehen. Dies soll deutlich werden, wenn sie auf die Über-Affirmation der Yes Men hereinfallen und wiederum affirmativ auf diese reagieren. In den retrospektiven Videodokumentationen, die neben anderen Dokumentationsmaterialien auch immer wieder Reaktionen der „Betroffenen“ zeigen, wird diese Sichtweise gleichsam wieder und wieder belegt.
Was geschähe aber, wenn die Filme mit Reaktionen der Zuschauer_innen ohne die im transmedialen Geflecht mitgelieferte Interpretationsbrille angeschaut würden? Man sähe dann vielleicht bei den Zuschauer_innen eher Verwirrung, die ausgelöst wird, weil eine Verschiebung im Vergleich zum ritualisierten Verhalten bemerkt wird. Ein möglicher Ausweg der Betroffenen ist, die Intervention als Show aufzunehmen, als durchaus kritische unterhaltende Einlage. Betroffene können zudem mit höchster Anpassung reagieren, wie sich in einer Intervention bei der Homeland Security Conferencein Washington zu erneuerbaren Energien 2014 zeigt, bei dem Abgeordnete einen „Indianer-Tanz“ ausführen. Es wäre bei der Analyse der Partizipation zudem zu berücksichtigen, dass die bisher herangezogenen sozialen Gruppierungen gegebenenfalls nicht über ein differenziertes Verhaltensrepertoire verfügen, um mit den Interventionen umzugehen.
Kritische Verhaltensweisen kommen auffälligerweise aus solchen Kontexten, die mehr Umgang mit abweichendem Verhalten haben, wie die kritischen Reaktionen bei einem Vortrag 2002 vor Studierenden eines College in Plattburg, USA. Sie sollten als Testpublikum genutzt werden für einen Vortrag der Yes Men in der Maske von Repräsentanten von McDonald. Im Vortrag wurde als revolutionäres Konzept zur Bekämpfung von Hunger vorgeschlagen, für die Herstellung von Hamburgern in der dritten Welt Exkrementen zu nutzen. Das heißt, die Inszenierung und Bewertung der Zuschauenden, die bei Yes Men immer auch Teilnehmende sind, ist integraler Bestandteil der Interventionen, da sich mit deren Verhalten die Intervention erst materialisiert, nämlich die vermeintliche Aufdeckung der neoliberalen Grundhaltungen. Es bleibt allerdings ein Verdacht des Fakes. Denn man weiß nicht, ob die Verhaltensweisen inszeniert sind. Auch Hagen Schölzel merkt an, dass die Beschreibung der Reaktionen nicht nachprüfbar ist (Hagen Schölzel, Das Politische als Kommunikationspraxis. Über Interventionen der ‘Kommunikationsguerilla’ in die ‘Kulturelle Grammatik’, 2015, S. 45).
Für die Analyse von Partizipation in digitalen Kulturen lässt sich nun zusammenfassen: Scham und Beschämung wird zur Methode politischen Handelns. Sie sind dabei abhängig von medialer Sichtbarkeit und einer Ökonomie konnektiver Aufmerksamkeit. Eine gleichsam techno-patriarchale Instanz der politischen Teilhabe entsteht, die letztlich nicht mehr zu Handeln, sondern zu einem Zusammenspiel von Schadensfreude, Beschämung und kalkulierter Defensive führt. Dieses zeigt sich, wenn die Rezipienten auf Kosten anderer lachen und die Betroffenen vordergründige Statements zum attackierten Fehlverhalten abgeben.
Zudem kommt das Geheimnis in digitalen Kulturen wieder ins Spiel. Je mehr Transparenz z. B. in den retrospektiven Dokumentationen inszeniert wird, desto mehr Geheimnis kommt auf, da man auf das im Präsenz Geschehene nicht mehr zurückgreifen kann. In einem von den Yes Men erst erzeugten Kontext des Fakens, betriff der Verdacht des Fakes auch die eigene Arbeit. Partizipation entpuppt sich als „Geheimmachung“. Das heißt, politische Öffentlichkeit in digitalen Kulturen ist selbst integraler Part der Geheimnis-Kultur. Interventionen in digitalen Kulturen entsprechen mithin der Kontrolle mit Hilfe von Beschämung und nicht länger dem Ideal einer Umcodierung kultureller oder diskursiver Ordnungen (Vgl. exemplarisch: Hagen Schölzel, Das Politische als Kommunikationspraxis. Über Interventionen der ‘Kommunikationsguerilla’ in die ‘Kulturelle Grammatik’ 2015).
Die Diskursivität des Fakes erschließt sich, wenn dessen Anliegen genauer betrachtet wird. Es soll eine verborgene Wirklichkeit sichtbar machen, wie Martin Doll erläutert:
„Wie Michel Foucault bei der Diskursanalyse, zu deren zentralen Anliegen es gehört, scheinbar selbstverständlichen Einheiten ihre ‚Quasievidenz zu entreißen’, ihnen ihre täuschende bzw. ‚scheinbare Vertrautheit’ zu nehmen, so insistiert Pirandello auf der durch vom Humoristen angestoßenen ‚Reflexion, die in allem eine illusorische, eingebildete oder künstliche Konstruktion erblickt, die sie mit Hilfe scharfsinniger, subtiler und präziser Analysen auseinandernimmt und zerlegt.’“
Statt Diskursanalyse so zu verstehen, dass sie den „wahren“ Diskurs ans Licht bringt, könnte ihre Aufgabe auch darin gesehen werden, die diskursive Gewordenheit herauszuarbeiten sowie die Machtbeziehungen, die sich aus dem Gewordenen ergeben. Mit diesem Zugang würden die Aufdeckungen der Fakes einen anderen Status erhalten. Yes Men würden dann auf den rituellen Rahmen der angegriffenen Organisation mit einem weiteren Diskurs antworten, nämlich dem über marktliberale Gesellschaften. Das heißt, sie legen nicht eine verdeckte Wirklichkeit frei, sondern sie erzeugen retrospektiv eine Wirklichkeit, indem sie den Diskurs, in den sie intervenieren, aufrufen und ihn mit einem weiteren Diskurs interpretieren.
Die performative Seite der Interventionen leistet einen Beitrag zu aktuellen Theorien zu symmetrischen Handlungsagenturen (PDF, vgl. u. a. Erhard Schüttpelz, Elemente einer Akteur-Medien-Theorie 2013), mit denen versucht wird, sozio-technische Gefüge in digitalen Kulturen neu zu beschreiben. Neu ist an ihnen, dass technische und humanoide Parts für „die wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Abläufe, Ziele oder Mittel“ (Erhard Schüttpelz) kooperieren. Auffällig ist an diesen Konzepten und Modellen aber, dass sie an Vorstellungen einer auch auf Menschen bezogenen Gemeinschaft und damit an Vorstellungen von auf Subjekte bezogene Handlungen gebunden bleiben. Mit den Interventionen des Yes Men wird allerdings deutlich, dass nicht Individuen, sondern Typen und Positionen in einem Simulationsmodell des Neoliberalen konnektet werden. Statt von einer Gemeinschaft könnte man somit eher von einem Konnektiv der Diskursverkörperung sprechen. Dieses ist zudem hochgradig performativ und wird durch eine Eigendynamik des ritualisierten Handelns geprägt. Das heißt, der freien wechselseitigen Verfertigung stehen performative Unkontrollierbarkeit ebenso im Wege wie die Operativität des „Zugzwangs“, mit dem das Konnektiv performt wird. Beiden müssten als Aspekte der Beschreibung von Gemeinschaftsformen politischen Handelns in digitalen Kulturen hinzugefügt werden.
Der Übergang vom Kollektiv zum Konnektiv entsteht zudem durch die eigene Zeitlichkeit der Interventionen in ihrer medialen Präsenz. Diese sind insofern Effekt von Konnektionen, als sie erst im Nachhinein aus einzelnen Teilen unter Mithilfe von zahlreichen Konnektoren (Vgl.: Bernhard Pörksen. Trolle, Empörungsjunkies und kluge Köpfe. Die fünfte Gewalt des digitalen Zeitalters, 2015), etwa Yes Men selbst, Journalisten, Aktivisten, Forscher, Fans und Kritiker zu einem kohärenten Ganzen zusammengeschlossen werden. Die einzelnen Ereignisse haben keine eigene Bedeutung, sie werdenerst retrospektiv in der Kette der technischen und narrativen Operationen. Sie sind vielleicht im Vollzug nie so gewesen, wie sie durch die medialen Dokumentationen gemacht und bewahrt werden.
Diese retrospektive Existenz scheint auch zu bedingen, dass die Interventionen der Yes Men reproduzierbare Muster von Interventionen mit Fake und Über-Affirmation als einer eigenen Methodologie ausbilden. Sie stehen für Formate, mit denen politisches Handeln und Kollektivität in auf Vernetzung beruhenden Gesellschaften erzeugt werden können. Dabei werden als enorme kulturelle Leistung Handeln, Medien und Lokalitäten exemplarisch zusammengefügt, mit Sinn belegt und gesichert. Die künstlerischen Interventionen übernehmen also einen wichtigen Part in digitalen Kulturen bezogen auf Wissen, Geschichte und Politik im Web. Die Interventionen dienen nicht nur dem Einschreiten in politische und ökonomische Verhältnisse sondern auch, vielleicht vor allem, der Erzeugung von Handlungs- und Sinngebungsmustern. Als dies geschieht mit Hilfe technischer Konnektivität, so dass aus Kollektiven Konnektive (Vgl. Vgl. Claus Pias, Vortrag: Connectives, Collectives and the ‘Nonsense’ of Participation, Zürich Mai 2014) werden.
Dieses zeitliche und epistemologische Regime zeichnet nun auch die Interventionen der Yes Men aus. Indem sie aus Zufällen zusammengebaut und erst retrospektiv als kohärente Gebilde zusammengefügt werden, existieren sie nämlich nur in der Gegenwart. Eine Zukunft, auf die hin Interventionen geplant und Entscheidungen getroffen werden könnten, gibt es nicht. Von dieser Situation sind die im Fake Bloßgestellen wie die Macher gleichermaßen betroffen. Sie sind im Jetzt, was kommen könnte, weiß man erst, wenn es geschieht. Man kann auf Grund der Komplexität des Konnektivs sowie der Kraft des Performativen nicht entscheidend Einfluss darauf nehmen und folgt den Events. Wo also in der Vormoderne ein Souverän am absoluten Platz gestanden haben mag, ist es nun eine Mischung aus Konnektiv, technologischen Verfahrensweisen, performativen Performanzen und vielleicht einfach dem Zufall, die Partizipation und Transparenz verunmöglicht; ein Umstand, dem spielerisch begegnet wird.
Diesem Zeit-Regime wäre mit Yes Men hinzuzufügen, dass ihm eine Melancholie für das Vergangene innewohnt, mit der Ritualität auch perspektivisch an die Stelle von Handlungsphantasien gesetzt wird. Das Web ist übersät mit Dokumenten zu vergangenen Aktionen; fast wie ein Museum zur konnektiven Erinnerung an Interventionen und Performances, die immer wieder an die Möglichkeit zum Handeln gemahnen und abrufbar sind, solange das Web besteht. Die Seiten, die über die Aktionen der Yes Men berichten, erzeugen eine Redundanz, die an die Erinnerungskultur oraler Kulturen erinnert, in denen die Wiederholung Vergehendes gegenwärtig hält. Um sich in digitalen Kulturen seiner selbst gewahr zu werden und handlungsfähig zu sein und zu bleiben, bedarf es anscheinend einer digital erstellten und aufrechterhaltenen rituellen Vorlage und Präsenz, die wiederholt werden kann, wie die Interventionsmuster der Yes Men.
Antoinette Rouvroy hat verdeutlich, dass es in der algorithmischen Gouvernementalität (Antoinette Rouvroy, Gouvernementalité algorithmique et perspectives d’émancipation: le disparate comme condition d’individuation par la relation? 2013) digitaler Kulturen keine Fehler (Antoinette Rouvroy, PRISM: “Se laisser diriger par les données, c’est le déclin total de la politique” 2013) mehr geben könne. Vielmehr sei jede Abweichung immer schon ein Anlass für eine Neuberechnung oder Korrektur, wie das Profling von Nutzer_innen (Antoinette Rouvroy, PRISM: “Se laisser diriger par les données, c’est le déclin total de la politique” 2013) zeige.
Orit Halpern spricht von einer neuen Epistemologie in Infrastrukturen, in denen es keine Experimente zum Finden von Wahrheiten oder Bestätigen von Thesen mehr gäbe, sondern nur noch Testumgebungen eines endlosen Engineering:
“A ‘test bed’ is not an experiment as conventionally conceived in ideals of science. The term does not denote the unearthing of a truth about the world. The phrase test bed emerges in the engineering literature to describe a controlled and often isolated development environment in which to test the operability of new technologies, processes, or theories for large systems. Test beds can include practices such as beta-testing software, testing control systems in manufacturing, stress testing in financial regulation, and so forth. […] In essence, it (The Smart City Songo, Bemerkung M.L.) is an experiment that cannot end, because every limit becomes a new engineering challenge, a new frontier to develop toward an ever-extendable horizon.”
Indem Yes Men nun ihre Interventionen in der Präsenz des Tuns erzeugen, können auch sie keine Fehler aufweisen. Vielmehr wird in der Logik der eigenen Methode je weiter vorangeschritten und jedes Event integriert. Aus dem Experiment wird durch die Aufgabe, die einzelnen Ereignisse zu einem kohärenten Ganzen zu fügen, eine Herausforderung zur Integration. Interventionen werden derart auf Dauer gestellt und damit zu einer im-/potenten Handlung, da sie nicht mehr auf Veränderung angelegt sind, sondern nur noch aufs „Weitermachen“.
Das Konnektiv, das an die Stelle eines Kollektivs entscheidungsfreudiger Subjekte mit Visionen für Zukunft und Veränderung tritt, lässt sich nun vertiefter als experimentelle Zweckgemeinschaft verstehen, die nur solange existiert, wie die Intervention mit all ihren Phasen andauert. Um dabei bleiben zu können, tun die Mitglieder der konnektiven Community, was digitale Kulturen so dringend brauchen: Sie geben Daten von sich und halten so das Web lebendig. Die Spaßguerilla agiert also im Dienste der Sache der Daten-Ökonomie, denn sie hat einen hohen Aufmerksamkeitswert im Web, dieser, und nicht etwa Information, ist in dieser Struktur bekanntlich Mangelware.
Yes Men zeigen, wie im Modus der Paranoia mit dem übermächtigen technologischen Geheimen in Gestalt der Überwachung in digitalen Kulturen umzugehen ist, die ein probates Fallbeispiel bildet. Der Kontakt von Yes Men mit dem Mysterium der Überwachung datiert auf das Jahr 2012, als herauskam, dass sie im Namen von Dow Chemical von Stratfor, einem US-amerikanischen, privatwirtschaftlichen Informationsdienst, überwacht wurden. Nach Berichten aus dem Internet und vor allem von Andy Bichlbaum soll im Rahmen der Überwachung eine Person den Mailverkehr von Stratfor gehackt und die „Beute“ an Julien Assange/Wikileaks geliefert haben. Assange wiederum lud Yes Men ein, die Dokumente einzusehen. Sie reisten nach England, wo sich Assange im Hausarrest aufhielt. Das Filmmaterial von diesem Treffen ist Teil des neue Films von Yes Men Jetzt wird’s persönlich, der Ende August 2015 in Deutschland in die Kino kam, The Yes Men Are Revolting im Originaltitel. Teile davon wurden übrigens bei der „Terms of Media“ gezeigt und der Livestream von der Keynote Bonannos zwecks Geheimhaltung des Materials unterbrochen.
Inhalt der „Recherche“ von Stratfor waren die Aktivitäten um Bhopal, wie im „Freitag“ zu lesen ist:
„Stratfor hat aktiv Aktivisten-Gruppen nachgespürt, die sich gegen den Chemiekonzern Union Carbide engagieren. Unter ihnen Bhopal Medical Appeal, eine kleine, im englischen Brighton ansässigen Non-profit-Organisation, die 2009 zusammen mit den Yes Men vor dem Dow Chemical Büro im britischen Staines eine Protestaktion durchführte. Die nun veröffentlichten E-Mails deuten darauf hin, dass Dow an diesem Tag seine Büros schloss, um der Konfrontation mit den Protestierenden aus dem Weg zu gehen, nachdem das Unternehmen von Stratfor einen Bericht erhalten hatte.“
Was schließlich bei der Bespitzelung herauskam, scheint dürftig wie der Freitag berichtet:
„Das Unternehmen hat anscheinend sogar Geld mit dem Verkauf einer Liste verdient, auf der nichts weiter stand als Bonnanos öffentliche Auftritte.“
Jacques Servin hebt nun hervor, dass Dow Chemical durch Überwachung vorhersehen wollte, was Yes Men als nächstes planen und machen würden oder könnten. Überwachung wird gleich einer Simulation zur Leitlinie für künftiges Handeln. Assange vergleicht sogar Überwachung mit Klimaerwärmung. Beide seien so in die Umwelt eingelassen, dass sie unmerklich und jenseits des umfänglichen Verstehens geschehen und das Leben in seiner Totalität bestimmen würden. Es entsteht eine paranoide Techno-Natur. Dieses an Fatalismus grenzende In-der-Welt-Sein zeigt sich auch am Anliegen der Überwachung durch Dow Chemical. Sie waren nicht an konkreten Aktionen interessiert, sondern vielmehr an möglicherweise geplanten Angriffen auf das große Ganze, nämlich auf die neoliberale Wirtschaft, wie Bichlbaum ausführt:
“ANDY BICHLBAUM: What surprised us in those emails, though, was that what—we would have assumed that Dow would be really concerned with the exact issue of Bhopal and Dow’s responsibility, stuff that could directly impact their bottom line. But what they—what Stratfor seems to be really a bit obsessed with is whether we or other organizations are going to draw this into a bigger critique of corporate power. There’s at least four long email exchanges about this, in which different Stratfor people, vice presidents and others, debate why we haven’t actually brought it into a much bigger issue […]
ANDY BICHLBAUM: Well, yeah, they seem to be really concerned that we, Amnesty, Greenpeace, etc., would be broadening this into a systematic critique and attacking the basis of corporate power. And it’s interesting that that’s what they were concerned with, rather than anything to do with the exact bottom line of Dow itself. And that might be a clue that they were really concerned about systemic critique and, you know, making statements that could affect policy. Maybe that’s also why they’ve been so afraid of Occupy Wall Street.”
Es geht also nicht um Details und Konkretes, sondern immer ums Ganze. Diese Konstitution macht Paranoia unhintergehbar, da sie nie aufhören kann ob dieser existentiellen Bedrohung. Ein Realitätscheck aber ist ausgehoben. Überwachung und Paranoia verbinden sich kongenial zu einer probaten Selbstregierungstechnik, der nicht zu entkommen ist. Es scheint geradezu so, als ob Überwachung vor allem zum Schüren der Paranoia geeignet, wenn nicht sogar erfunden worden ist.
Anhand der Geschichten zur Überwachung von Yes Men zeigt sich, dass es in der Geheimkultur nicht um eine Forderung nach mehr Transparenz geht, sondern um die Erprobung eines Umgangs mit dem Geheimen. Das Geheimnis und sein Pendant die Aufklärung werden Teil einer Geschichte, die auf allen Kanälen wieder und wieder mit leichten Abweichungen erzählt wird, sei es im Fernsehen, in Filmen, in Interviews oder in Texten. Es öffnet sich einmal mehr ein weites und vernetztes Feld im Web, auf das man bei der Recherche in Verlinkungen und Rekursion stößt. Da ist zum einen das Für und Wider in der Bewertung von Stratfor. Spionieren und überwachen sie, oder sind sie Garant einer transparenten und unabhängigen Nachrichtenüberwachung. Um diese Frage zu klären, müssten bereits eigene, mit dem Geheimen operierende Recherchen angestellt werden. Es bleibt der Eindruck, dass keine Frage so recht und endgültig gelöst werden kann. Zudem ruft jeder Schritt eine neue Frage auf.
Derart entsteht erst das Mysterium der Überwachung und der geheimen Planungen für Angriffe und Interventionen und zugleich wird es unnahbar, je mehr es offen gelegt wird. Das heißt auch, dass das Arkanum digitaler Kulturen nicht nur technologisch, sondern auch praxeologisch bedingt ist. Es entsteht eine Regierungsform, mit der sich Interessensgruppe gegenseitig in Schach halten und dabei andauernd die Rollen zur Ausübung von Kontrolle, Überwachung und Beschämung wechseln. Ein Staat scheint in diesem selbstorganisierten System nicht mehr nötig. Diese Konstitution gibt Hinweise darauf, wie Partizipation und politische Öffentlichkeit organisiert sind. Diejenigen, die bisher für Interventionen standen, sind Teil des paranoiden Geheimsystems und werden dieses schwerlich kritisieren und verändern können, da sie durch es ja erst existieren.
Die Untersuchung der Aktionen von Yes Men im Hinblick auf dieses Arkanum zeigte, dass die Intervention selbst zum Mysterium wird, da man nicht weiß, wie sie sich entwickeln und sie also nicht-wissbar und nicht-verratbar sind. Anhand der Interventionen lässt sich die spezifische Konstitution des Mysteriums in digitalen Kulturen ablesen. Es lassen sich nicht mehr Personen auszumachen, die Träger des Geheimnisses sind. Vielmehr ist ein Ensemble nicht mehr überschaubarer Player daran beteiligt, das Mysterium über Vernetzungen herzustellen. Zugleich bleibt der Status der Interventionen ambivalent, was sich im Fake manifestiert. Er ist zum einen Methode, das Mysterium herzustellen und aufrechtzuerhalten, da er selbst nicht mehr verratbar ist, sobald er einmal in die vernetzten Kanäle eingespeist ist. Ist der Fake und damit der Verdacht einmal etabliert, zieht er eine operative Kette des potentiellen Fake-Seins in den Netzen nach sich. Zum anderen aber hält der Fake eine reflexive Wissenskultur aufrechterhält, da er vermeintlich Verborgenes entlarven will, um Wissen und Verstehen herzustellen. Dies geschieht in den retrospektiven Auswertungen und Bündelungen der Events, die gleichsam das Mysterium der vernetzten Daten und Adressen in eine Erzählung bündeln, die Wissen schafft. Damit wären die Interventionen der Yes Men, die das Web, die Kinos, wissenschaftliche Bücher sowie die Hirne rund um die Welt bevölkern und zusammenschließen, ein Scharnier zwischen vormodernen und modernen Geheimnisformen, zwischen Mysterium und Secreta. Der Effekt dieser Kopplung ist, dass die Secreta da ins Mysterium überführt werden, wo sie sich im Netz der Vernetzungen verfangen. Digitale Kulturen heißt das, lassen Transparenz da nicht zu, wo Datenverarbeitungen auch mit Hilfe von deren performativer und narrativer Besetzung undurchschaubar werden und dies zugleich verborgen wird. Die lustigen Interventionen mögen Aufmerksamkeit für marktliberale Untaten erzeugen. Sie befördern aber zugleich gerade mit der exzessiven Nutzung von Datenverarbeitungen das Mysterium digitaler Kulturen und sind so deren unverzichtbaren integraler Bestandteil, wenn sie das Mysterium bunt und handhabbar machen. Folgt man forschend den unübersehbaren Spuren, dann hinterlässt man ebensolche fürs Profiling und verschwindet dabei im Mysterium der Daten und ihrer Wege und Auswertungen (Vgl.: Antoinette Rouvroy, Des données sans personne: le fétichisme de la donnée à caractère personnel à l’épreuve de l’idéologie des Big Data, 2014).
Für die Vorstellung von Igor Vamos bei der Konferenz „Terms of Media“ sollte in zwei Punkten zu diesen Verführungen der Interventionen Distanz genommen werden. Zum einen sollte deren Verankerung in Diskursen zu neoliberalen Regimen herausgestellt werden, die Interpretationen vorgeben, damit eine Wirklichkeit erst konfigurieren und eine Verengung möglicher Sinnbezüge nach sich ziehen. Zum anderen war es Anliegen, die dramaturgisch bewirkte Einflussnahme auf die Zuschauer_innen auszustellen und auf Beschämungen als Strategie der Interventionen und deren Wirkungen aufmerksam zu machen, vor allem erstere nicht selbst zu nutzen. Dies zu erreichen, wurde Igor Vamos als neoliberaler Geschäftsmann Mike Bonanno ernst genommen und als solcher vorgestellt. In den Mittelpunkt rückte damit das Auditorium, das mit dieser Über-Affirmierung herausgefordert und in eine reflexive Haltung gebracht werden sollte. Auch Martin Doll stellt die Zuschauer_innen in den Fokus:
„Systemtheoretisch formuliert wird man als Zuschauer der Yes-Men-Filme also zum Beobachter zweiter Ordnung, insofern man beobachtet, wie Beobachter beobachten und dies nachträglich kritisch reflektiert. Als ,Zuschauer’ der Yes-Men-Inszenierungen wäre so in Wirklichkeit die Medienöffentlichkeit anzusehen, die retrospektiv Dokumente der Fakes als aufgedeckte komische Verfahren vor Augen geführt bekommt. Durch dieses Reflexionsmoment kommt die eigentliche Entlarvung ins Spiel, dann nämlich, wenn die Komik, die noch während des unaufgedeckten Fake im Spiel war, bei dessen filmischer (Wieder-)Aufführung ins Humoristische kippt. In der Folge erweist sich rückblickend selbst manche komische ,Einlage’ während der Fake-Veranstaltung (die mitunter schon die unwissenden Mitakteure zum Lachen brachte) als Finte. Die Komik scheint zunächst affirmativ (auch weil sie, um noch einmal die positiven Reaktionen zu zitieren, ‚refreshing’ oder ‚nicely’ vorgeführt ist), wird dann aber bei der Aufdeckung hinter sich gelassen, um noch dieses erste Lachen als ebenso zynisch wie menschenverachtend zu unterhöhlen und wiederum der Lächerlichkeit preiszugeben.“
Anstatt nun allerdings die Zuschauer_innen in die Rolle einer distanzierten Beobachtung der Beobachtung zu bringen, sollte ihnen im Rahmen der Vorstellung eine Beobachtung der eignenBeobachtung ermöglicht werden. Denn diese, so der Gedanke, wäre ein erster Schritt hin zu einer Analyse der Konstitution und Wirkungsweisen von Interventionen der Yes Men in digitalen Kulturen. Methodisch sollte dies hergestellt werden, indem ein Widerspruch zwischen der gesprochenen Vorstellung und dem sie begleitenden Text in einer Power Point Präsentation hergestellt wurde. Während die Performerin den Fake vollzog, zeigten die Folien quasi dessen Auflösung. Damit konnten die Zuschauenden in einen kognitiven Abgleich einsteigen. Zudem sollte mit der Über-Affirmation des Alias von Vamos zum Erscheinen gebracht werden, dass die Interventionen der Yes Men ist einem nicht hinterfragten Diskurs zu neoliberalen Regimen fußen. Denn indem derjenige, der für die Bloßstellung von Vertreter_innen marktliberaler Organisationen bekannt ist, gleichsam selbst mit der gefakten Vorstellung von einer Bloßstellung bedroht wurde, sollte die Voreinstellung im „Anti-Neoliberalen“ in den Interventionen der Yes Men aufscheinen können, die sicher auch die Zuschauer_innen teilten. Indem Zuschauende sich im Widerspruch beobachteten, sollte eine Denkhaltung des Hinterfragens ermöglicht werden.
Ein Effekt war, dass die Performerin im Laufe der Vorstellung von Igor Vamos feststellen konnte, dass sie selbst von der Performance überrollt wurde. Es machte Spaß, sie durchzuführen. Je weiter die Vorstellung voranschritt, desto mutiger wurde die Performerin, angeheizt von der Kraft des körperlichen Vollzugs. Dies kann als Hinweis darauf genommen werden, dass sich im Performen eine eigene Logik und Dynamik entwickeln, die nicht allein aus politischem oder aufklärerischem Kalkül gespeist sind, sondern vor allem einer Lust am Spiel, am Unvorhersehbaren sowie an der wie auch immer gearteten Anerkennung durch die Zuhörer_innen und Zuschauer_innen. Für Interventionen, und auch für Interventionen in diese, wäre also immer auch mit der Selbstbezüglichkeit und Selbstgenügsamkeit des Performativen zu rechnen. Dieses löst tradiertes politisches Handeln ab und verweist die Akteure in einen Spielraum, in dem sie sich ausagieren und darin selbst genügen. Diese Politik würde sehr gut mit einem Regime des Nicht-Verstehens zusammenspielen, da sie eine Oberflächen-Partizipation ermöglicht, mit der man sich begnügen und in der man sich verausgaben kann.
Die Zuschauer_innen waren zufrieden und Igor Vamos angetan. Der Performerin aber blieb ein ungutes Gefühl, das zumindest zu dieser Analyse der Interventionen von Yes Men als Paradigma der praxeologisch-performativen Seite digitaler Kulturen antrieb.
Im Rahmen der Vorstellung wurde Igor Vamos eine Barbiepuppe mit kahlgeschorenem Kopf überreicht. Sie sollte den Bezug zum Ort herstellen, denn die Konferenz fand in der Ritterakademie der Stadt Lüneburg statt, in der zur gleichen Zeit der Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Oskar Gröning (93) abgehalten wurde. Der Bezug zum Ort sollte durch die präparierte Barbiepuppe hergestellt werden, da sie die Zurichtung von Opfern des Nationalsozialismus in Konzentrationslagern symbolisierte. Die Wahl fiel zudem auf eine Barbiepuppe, weil sie zugleich an eine Intervention von Igor Vamos von 1993 erinnerte, in der Barbiepuppen (MP3, Listen to the Barbie’s song) in einer Barbie-Liberation-Organization aus ihren genderspezifischen Gefängnissen befreit wurden, indem die Sprachboxen von Barbie und Soldat Joe ausgetauscht wurden. Dies geschah mitten im Weihnachtsgeschäft und so landeten „falsche“ Barbies auf Geschenktischen.
Überreichung der Barbie
Zunächst war geplant, die Barbie bei der Vorstellung in der Hand zu halten und sie an deren Ende mit dem Hinweis auf den Ort Igor Vamos zu schenken. Da allerdings der Präsident der Universität, Prof. Dr. Sascha Spoun, in seiner Begrüßungsrede auf den Ort und den Prozess einging, wäre die geplante Überreichung geschmacklos gewesen, da das Symbol der historischen Situation nicht gerecht werden kann. Die Provokation, die ohne die Bezugnahme des Präsidenten im selbstbezüglichen System der Interventionen erschienen und in diesem legitimiert gewesen wäre, war nicht mehr denkbar, sobald das massenhafte Ermorden von Menschen mit direkten Worten auf den Plan gerufen worden war. Die Performerin beschloss in der entstandenen Lage, auf die Präsentation der Puppe während der Vorstellung zu verzichten. Während der Keynote von Igor Vamos entschied sie dann, ihm die Puppe vor der Moderation der an die Keynote anschließenden Diskussion als Lüneburger Gastgeschenk zu überreichen.
Igor Vamos nahm das Gastgeschenk dankend an und posierte mir ihr und der Performerin mediengerecht und ähnlich den Bildern von Politikertreffen oder Spendenfotos mit Stiftungsräten heftig in die Kameras und das World Wide Web lächelnd.
Das Unwohlsein heftete sich an die abgeschnittenen Barbiehaare, die die Performerin aufgehoben hatte. Die Spirale der Symbolischen, die Jürgen Riethmüller (Jürgen Riethmüller. (Wann) Soll politischer Aktivismus als Kunst anerkannt werden? 2013, S. 17) in seiner Auseinandersetzung mit künstlerischen Interventionen beschrieben hatte, erhielt einen neuen Status. Riethmüllers Überlegung war, dass es im Kontext von Interventionen als Handeln auf ein Handeln zu einer gesteigerten Empfindlichkeit gegenüber Symbolen komme. Diese sah er als Einfallstor für Interventionen, die vor allem von künstlerischen Methoden profitieren würden, da der Staat eher symbolisch Sanktionen vornimmt, denn real zu handeln.
Diese gesteigerte Symboliztät zeigte sich nun von einer anderen Seite. Sie legte nicht Handlungen lahm, wie etwa in Riethmüllers Bild von der nicht eingreifenden Polizei. Sie führte vielmehr aus dem selbstbezüglichen Rahmen der Interventionsketten hinaus zu einem Rest Wirklichkeit, der nicht eingeholt werden kann. Die Barbiehaare wurden zum Symbol für die Unzulänglichkeit von Symbolen, sowie von Medien, das Leid der Menschen jüdischen Glaubens und der Verbrechen an ihnen würdig zu repräsentieren.
So kam der Entschluss, die Barbiehaare als Ausdruck der Entschuldigung für die eigene Leichtfertigkeit zu bestatten. Diese Aktion sollte medial beglaubigt werden, indem sie, auch auf die Gefahr hin, in eine mediale Verkettung eingefügt zu werden, auf Video festgehalten wurde. Dieser Verkettung zu entgehen und eine mediale Glaubwürdigkeit herzustellen, wurde die Aktion entpersonalisiert, da die Performerin nicht zu erkennen ist. Es ging nicht um die Tat einer bestimmten Person, sondern um einen bescheidenen symbolischen Akt, mit der performative Überschwänglichkeit abgegolten werden sollte.
Wenn das Politische in digitalen Kulturen vor allem selbstbezüglich und performativ ist und sich im Fake mit der Macht involviert und dabei auch selbst Opfer hervorbringt, dann sollten ihnen Rituale und rituelle Orte zur Seite gestellt werden, an denen den Opfern eine Art der Wiedergutmachung widerfährt.
So läuft die Vorstellung von Igor Vamos mit der Barbiepuppe zurück auf die Betroffenen in Bhopal, denen mit den Interventionen allein nicht geholfen werden kann. Vielleicht bedarf es auch und gerade in digitalen Kulturen tradierter Formen der Bewältigung von Schmerz, Trauer und Leid durch Zerstörung wie Rituale (Christoph Wulf, Wofür brauchen wir Rituale? 2010).