Irina Kaldrack, Martina Leeker, Oktober 2015
Interventionen und Experimente unter Mitarbeit von: Oona Braaker, Jan Brinkmann, Jonas Keller und Nicole Smith. Wir danken Wendy Chun, Arini Lackdark, Irina Kaldrack, Jan Müggenburg und Nishant Shah für ihre Bereitschaft, an den Interventionen und Experimenten mitzuwirken.
Overview
Die Interview-Serie „DCRL Questions – What are digital cultures?“ wird seit Herbst 2013 durchgeführt. Bis Herbst 2015 sind 70 Interviews mit Wissenschaftler_innen, u. a. aus der Medien- und Kulturwissenschaft oder der Soziologie, sowie mit Künstler_innen entstanden. Bei der Interview-Serie handelt es sich um ein Recherche-Projekt zum Stand der Forschung zu digitalen Kulturen. Ziel ist es, die Vielfalt der Ansätze zu repräsentieren, die derzeit zur Einschätzung dessen, was digitale Kulturen sind, entstehen. Es soll vor allem ein Arbeitsmaterial zur Verfügung gestellt werden, das in weiteren Untersuchungen geordnet und analysiert werden kann. Dies zu ermöglichen, werden in den Interviews immer die gleichen vier Fragen gestellt, wobei die Gestaltung der Filme möglichst neutral und einheitlich sein soll, sodass z. B. Zusammenschnitte für vergleichende Analysen vorgenommen werden können.
Die Haltung der Macher_innen der Interviews ist, dass die Aussagen nicht in einer ontologischen Weise als Beschreibungen einer Lage digitaler Kulturen zu verstehen sind. Vielmehr bringen sie diese im Zusammenspiel der unterschiedlichen Ansätze erst mit hervor. Es geht mithin darum, eine diskursive Landschaft zu erzeugen, die auf ihre Produktivität sowie auf ihr Begehren hin zu untersuchen ist. Dies entspricht dem Status digitaler Kulturen als die einer diskursanalytischen Ästhetik, die mit eben solchen Methoden zu untersuchen ist.
Mit dem Projekt „Interventions in interview videos“ soll nun eine medienreflexive Intervention in das Rechercheprojekt vorgenommen werden. Denn die technologischen Bedingungen der Interviews sowie deren narrative und ästhetische Inszenierung wirken an dem mit, was ausgesagt und wie es rezipiert wird. Dies auszustellen ist Aufgabe der Interventionen in die Interviews sowie der Experimente mit den aus diesen Einschreitungen hervorgehenden, weiteren gestalterischen und epistemologischen Optionen. Methoden der Intervention sind u. a.: Fake, Überaffirmation, Kontrastierungen oder das Herstellen von Ambivalenzen und Irritationen.
Diese Interventionen stehen in einem historischen und systematischen Kontext, der sich auf die Problematik von Forschung und deren Methoden in digitalen Kulturen bezieht. Sie sind nämlich dem Umstand unterworfen, dass mit den Technologien wissenschaftlich gearbeitet wird, die untersucht erst werden sollen. Dies betrifft nicht nur die Auswertung von großer Datenmengen (Big Data), sondern auch geisteswissenschaftliches Arbeiten. Denn hier entstehen unter anderem zunehmend audiovisuelle Korpora, etwa in Gestalt von Mitschnitten von Vorträgen oder Interviews, die neben die Arbeit mit Texten treten. Die Wissenschaft reagiert mit der Entwicklung von so genannten Tools als Methoden zur Erforschung der audiovisuellen Korpora, wie die Annotation von Videoclips, etwa vergleichbar dem Markieren von Textstellen, damit diese systematisierbar und auswertbar werden. Das heißt, in der geisteswissenschaftlichen Forschung wird ein neuer Korpus gebildet, der mit neuen, nunmehr technologisch gestützten Methoden untersucht wird, die allerdings wiederum selbst an dem mitwirken, was erforscht werden kann. Da dem techno-methodischen Feedback nicht ohne weiteres zu entkommen ist, braucht es für die wissenschaftliche Arbeit mit digitalen Technologien also Methoden der Unterbrechung sowie der Selbstreflexion, mit denen sie sich über ihre eigenen technologischen und methodischen Bedingungen sowie ihre epistemologischen Effekte klar werden und diese auch nachvollziehbar machen kann.
Diese Veränderungen der Forschungsgegenstände sowie der Bedingungen des Forschens in digitalen Kulturen warten mit einem tief greifenden Impakt auf. Denn sie betreffen das, was als Wissen gilt, in seinen Grundfesten. Wo dieses nämlich, etwa im Vergleich zur Speicherung und Verbreitung in einem gedruckten Buch, unter technologischen Bedingungen der Veränderbarkeit auftaucht, wird es selbst zum einen unsicher und zum anderen in seiner technologischen Konstitution erkennbar.
Diese Lage betrifft nun die mit den Interviews entstehenden Forschungsgegenstände insofern, als sie erst mit den technologischen und infrastrukturellen Bedingungen digitaler Kulturen möglich werden. Denn sie werden in digitalen Codierungen gespeichert und sind damit vielfältigen Formen der Bearbeitung anheim gestellt, so dass das Medium bei der Forschung mitspricht; dies oft genug ohne es dass bemerkt wird. Das audiovisuelle Material wird zudem über das Internet verbreitet und ist damit – solange keine Unterbrechungen vorliegen – allseits zugänglich und modifizierbar.
Ansatz für den Umgang mit und die praktische Forschung zu dieser Problemlage ist nun im Bereich „Re-thinging methods in digital cultures“ des DCRL die Intervention, die exemplarisch anhand von Eingriffen in die Formate und Settings der Interview-Serie durchgeführt wird. Diese sind zum Teil aus technischen Fehlern und Störungen hervorgegangen, mit denen bekanntlich Medien erst in Erscheinung treten (PDF, Florian Sprenger. Was wissen Medien darüber, dass es sie gar nicht gibt? Tagung der GfM 2008) und in ihrer generativen Potentialität verständlich werden. Zum anderen entstanden die Interventionen aus konzeptuellen Überlegungen, die aus der Erfahrung mit den technischen Störungen gewonnen wurden. Ziel ist es, mit den Interventionen und Experimenten das medial Geschlossene sowie dessen kulturelle Rahmungen zu durchbrechen und es bei der Arbeit zu zeigen.
Damit unterscheiden sich die Interventionen zugleich von einer aktuellen Strömung in der Filmwissenschaft, die ebenso als exemplarisch gelten kann für eine Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und Möglichkeiten des Forschens unter den technologischen Bedingungen digitaler Kulturen. Es handelt sich um Konzept und Ästhetik des Videoessays, mit denen nicht mehr über Film geschrieben, sondern durch Film selbst Filmwissenschaft betrieben, d. h. Film mit einer videografischen Methodologie erforscht wird. Die in „Re-thinking methods“ unternommen Interventionen plädieren im Gegensatz dazu allerdings für eine Distanz zum filmischen Forschen, denn auch dieses wirkt wiederum mit an dem, was es als Ergebnisse hervorbringt, ohne dies noch weiter explizit zu reflektieren. Interventionen und die aus ihnen folgenden Experimente sollen dagegen das eigene Tun offenlegen, um dessen Wirkungen nachvollziehbar zu machen. Das heißt, das Konzept für „Re-thinking methods in digital cultures“ für die Erforschung der Interviews setzt auf Interventionen und nicht vor allem auf die Methoden des experimentellen Films.
Die ersten Versuche in diesem Projekt intervenieren in unterschiedliche Bereiche des Settings der Interviews und erproben verschiedene Methoden, dieses und seine Wirkungen auf Inhalte und Forschung auszustellen. In You have never been there (Interview mit Jan Müggenburg) geht es darum, das Setting der Interviews zu zeigen und dabei zugleich durch die Manipulation von Räumen und die Präsenz von Personen auf die Konstruktivität von Film zu verweisen. In Who Speaks (Interview mit Wendy Chun, unter Mitwirkung von Irina Kaldrack und Nishant Shah) wird mit Hilfe der Irritation von Stimmen die Performativität von Medialität sowie die Unsicherheit medial gestützten Wissens erkundet und ausgestellt. Stimmen und Gesten intervenieren dabei ebenso in das Gesagte wie Technik selbst. Notions and Knowledge (Interview mit Irina Kaldrack) erkundet mit den Mitteln des theatralen Rollenspiels die Bedingtheit von Forschung. Wenn eine Forscherin, die vorgibt, aus dem Bereich der synthetischen Biologie zu kommen, über „digitale Kulturen“ spricht, zeigt sich, dass diese Begrifflichkeit in unterschiedlichen Wissens- und Forschungskulturen je völlig andere Bedeutungen hat und deshalb unterschiedlichen Sinn- und Verstehenswelten entstehen lassen kann. Das Projekt Simulation of conversation arbeitet mit dem altbekannten Prinzip des Split screen (Malte Hagener. The Aesthetics of Displays: How the Split Screen Remediates Other Media 2004), um einen Austausch widersprüchlicher Meinungen in den Interviews zu simulieren. Mit diesem Format wird zudem anhand der Interview-Serie exemplarisch an einem „Tool“ für die wissenschaftliche Aufarbeitung audiovisueller Korpora geforscht, mit dem das Material zunächst synthetisiert und systematisiert und anschließend analysiert werden kann. Schließlich reflektiert Telling a research story (Interview mit Jan Müggenburg) die Suche nach zusätzlichen Informationen im Internet, die oftmals die Rezeption eines mündlichen Vortrages im akademischen Leben begleitet. Diese bringt die Zuhörenden in einen Zeitverzug im Verhältnis zum gesprochenen Wort.
Das heißt, die Interventionen und Experimente mit den Videos der Interview-Serie erfüllen zwei Aufgaben. Sie dienen ebenso der Forschung zu Tools und Methoden der Forschung mit digitalen Gegenständen in digitalen Kulturen wie deren Selbstreflexion. Ob der genannten besonderen Verwobenheit von Forschung mit digitalen Kulturen sollten Forschung und Reflexion stets Hand in Hand gehen. Diese Überlegung entspricht dem substanziellen Statement zu “Re-thinking methods in digital cultures“.
Die skizzierten metho-technologischen Bedingungen fordern mithin tradiertes wissenschaftliches Arbeiten in einer radikalen Weise heraus. Die Zukunft wird zeigen, ob das interventionistische und experimentelle Forschen von den bestehenden, textlastigen und auf Eindeutigkeiten zielenden Wissens-Regimen anerkannt werden wird, die noch über die Wissenschaftlichkeit des Akademischen entscheiden und wachen. Derzeit steht die Nobilitierung noch aus; vielleicht zum Glück, da der unnoble Status zugleich mehr forscherische Freiheit erlaubt, obschon er sich bei ausbleibender Anerkennung und Reputation vermutlich nicht durchsetzen können wird.
In You have never been there geht es darum, das Setting der Interviews zu zeigen. In allen Filmen ist bisher nur die interviewte Person zu sehen, die eine imaginäre Partnerin/einen imaginären Partner anschaut, die/der auf Grund den Interviewten eingenommenen Blickrichtung anscheinend neben der Kamera sitzt.
Mit der Intervention wird nun mit der filmischen Methode von Schuss/Gegenschuss die Situation eines Interviews offengelegt, indem eine Interviewerin sowie ein Kameramann sichtbar werden. Da wechselnde und zunehmend umglaubwürdigere Hintergründe eingespielt werden, zeigt sich jedoch zugleich, dass die Offenlegung mit einem Fake gepaart wird. Zudem wird in der Montage mit der Präsenz und Absenz der interviewten und interviewenden Personen gespielt, sodass fraglich wird, ob sie jemals zusammen in einem Raum waren oder diese Ko-Präsenz erst in der Postproduktion hergestellt wurde.
Dem über Film vermittelten Wissen ist mithin nicht zu trauen, denn der Film ist nie da gewesen, wo er vorgibt zu sein.
In Who Speaks werden die Medialität von Performativität, also etwa die unhintergehbare mediale Vermitteltheit von Praktiken oder der Zwang zur Verkörperung von Medien, sowie die Performativität von Medialität, d. h. ihr eigensinniges Einmischen, erforscht und ausgestellt, um es mit Sybille Krämer(PDF, Sybille Krämer. „Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität“, in: Uwe Wirth (Hg.) Performanz – Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002) zu formulieren. Sybille Krämer weist nämlich darauf hin, dass Medien verkörpert werden müssen, mithin eine materielle Seite haben, und bei medialen Operationen intervenieren, sodass sie die Idee einer vorgegebenen Sinnhaftigkeit oder der Intentionalität eines Subjektes sowie der Vorgängigkeit von Wissen torpedieren. Mithin spricht das Medium, sei es die Stimme oder der digitale Videoclip, immer mit, woraus mit Krämer folgt:
„Es wirkt in unserem Sprechen eine vorsymbolische, eine präverbale und nichtpropositionale Dimension, in der es wenig um das geht, was wir sagen, vielmehr um das, wie wir es sagen. […] Dieses ‚Wie’ erzeugt […] einen affektiven Boden unserer Verständigung, eine sympathische oder antipathische Bezugnahme auf den Anderen […].“
Wird diese theoretische Rahmung ernst genommen, dann stößt das Projekt in den Kern der Instabilität und Unverlässlichkeit von Medien und damit von Wissen, das immer medial verfügt ist.
Die Eigendynamik der Medien in ihrem Vollzug sowie die Nachträglichkeit von Sinn und Wirklichkeit informieren über den Status von Medialität selbst. Wird ihre Performanz zur „Bedingung der Möglichkeit von Geist, Ethik, Ästhetik oder Gemeinschaft“ (Krämer 2006 hier S. 287) werden Medien als Mittler (Krämer, ebda. S. 290), als Dazwischenstehenden und zugleich immer Entzogenen kenntlich, die nichts Fixbares, Substanzielles oder Inhaltliches vermitteln, sondern vor allem Unterscheidungen (Krämer, ebda. S. 291) ermöglichen.
Diese Konstitution von Medialität betrifft die Interviews zutiefst, die vor allem vom Sprechen leben. In Frage stand, wie die damit entstehende Fragilität der Interviews für Wissenschaft sowie das Wissen der Interviews über die Wirkungen von Medialität herausgestellt werden können.
Den ersten Angriffspunkt für entsprechende Interventionen bildete die Stimme selbst. Anlass dafür war, dass bei der Aufnahme des Interviews eine Tonstörung entstand, so dass die „Original-Stimme“ von Wendy Chun in weiten Teilen nicht verwendbar war. Was geschieht nun, wenn einer Person auf Grund filmischer Sehgewohnheiten nach dem Erklingen einer Stimme diese zugeordnet wird, diese Person im Fortlauf aber mit anderen Stimmen spricht. In der Intervention wurde diese Methode und deren Wirkungen erprobt und die weibliche Forscherin spricht plötzlich mit einer männlichen Stimme (Nishant Shah), die zudem über einen indischen Akzent verfügt, der mit dem asiatischen Aussehen der Sprecherin in Konflikt tritt. Es folgt eine weibliche Stimme (Irina Kaldrack), die im Vergleich zur ersten Erfahrung mit der Stimme der Sprechenden anders klingt. Im Verlauf des Interviews werden der Sprecher und die Sprecherin als unscharfe kleine Bilder eingeblendet und schließlich in der Zuordnung irritiert, da das Bild der Mannes bei der weiblichen Stimme eingeblendet wird und umgekehrt.
Effekt dieser Interventionen ist, dass Bild und Stimme auseinander treten und je neu zusammengefügt werden müssen. Damit wird erstens die Performativität des Mediums Stimme anschaulich und erlebbar, die die Idee unterwandert, dass ein intentionales Subjekt etwas spricht, das es sich zuvor ausgedacht hat. Die Stimme spricht und je nach Art der Stimme, oder der geschlechtlichen Zuordnung, wird das Gesagte anders aufgenommen. Den Stimmen und Bildern ist mithin nicht zu trauen, da sie immer auch mit fremder Stimme sprechen können. Die Eigenständigkeit sowie die mangelnde Passgenauigkeit der Stimmen verweisen zweitens auf den genannten Mittler-Status von Medien. Sie dienen der Unterscheidung von z. B. Sinn und Sinnlichkeit und stehen in deren Mitte. Ein Interview kann mithin eine Übung in Unterscheidungen und damit in Toleranz sein, da z. B. geschlechtliche Zuordnungen immer auch aufgelöst werden und dadurch neue Erkenntnisräume und Bedeutungen entstehen können.
Die Einsicht in die performative Konstitution der Medialität wird noch dadurch befördert, dass Schriftfragmente, die eingeblendet werden, weniger dazu zu dienen, das Gesprochene zu unterstützen, also vielmehr einer munteren eigenen Logik und Laune zu folgen. Die „creepiness“ der digitalen Kulturen, von denen Wendy Chun bzw. ihre stimmlichen Stellvertreter sprechen, liegt wohl auch in der unhintergehbaren Entfesselung der Medien, mit der Wissen uneinholbar prekär geworden ist.
Auf Grund der latenten Asynchronizität, die das mit den akustischen Interventionen behandelte Interview ständig begleitet und fremd macht, werden auch Gesten als Medium kenntlich. Während sie gemeinhin die Rede begleiten, erhalten sie dadurch, dass sie aus der direkten Verknüpfung mit dem Gesprochenen herausgelöst sind, eine eigene Dynamik und Sinnlichkeit, die ob der Verschiebungen für Irritationen sorgt.
Es ist also nicht mehr auszumachen, wer spricht. Habitualisierte Kopplungen von Stimmen, Gender und Gesten werden aufgehoben und damit nicht nur Gewohnheiten hinterfragt, sondern auch neue Zuschreibungen und Sinnzuweisungen möglich. Die Interventionen entsprechen mithin einem „queeren“ Mediengebrauch (Vgl. Anna Street, A TPP-goer’s guide to Jon McKenzie’s galaxy in Perform or Else, 2014).
Schließlich spielt die Zeit der Medien eine wichtige Rolle, die sich in den Wiederholungen, Dehnungen oder Beschleunigungen auf der Tonebene sowie der A-/Synchronizität von Ton und Bild zeigt. Das heißt, das Medium spricht selbst mit, mischt sich mit technologischen Möglichkeiten wie Verzögerung, Beschleunigung, Unterbrechung, Wiederholung oder optischen und akustischen Störungen in das Interview ein. Die operative Zeit des Mediums tritt mithin mit der des Körpers in einen Austausch und verweist so mit Hilfe der technischen Performanzen auf die Medialität der Performances im Interview, die das Gesagte entscheidend konstituieren.
Allen Irritationen zum Trotz wird das Interview in seiner interventionistischen Version verständlicher. So heben die Schriftfragmente Kernthesen hervor oder die Wiederholungen von Sätzen ermöglichen das Markieren von zentralen Aussagen. Das heißt, gerade durch die Interventionen und Irritationen wird die Aufmerksamkeit erhöht; man hört ob der Operationen an den Stimmen genauer hin. Vor allem aber wird die Eigentätigkeit erhöht der Rezipient_innen erhöht, da sie Dinge selbst je verknüpfen müssen. Somit kann dieses Projekt als eine Recherche dazu gelten, wie in digitalen Kulturen mit digitalen Technologien so geforscht werden kann, dass diese bei ihrer Arbeit zugleich ausgestellt und in ihren Effekten für Forschung nachvollziehbar gemacht werden.
Schließlich kann an diesem Experiment exemplarisch ein Ausblick auf Lehre in digitalen Kulturen gegeben werden. Interventionen in Interviews könnten ein probates Mittel sein, denn im Arbeitsprozess sind die Macher_innen zu einem vertieften Einstieg gezwungen, so dass sie zum einen die theoretischen Aussagen genauer erfassen. Zum anderen lernen sie das Wissen der Medien im experimentellen Umgang kennen und verstehen.
Notions and Knowledge erkundet mit den Mitteln des theatralen Rollenspiels die Bedingtheit von Forschung. Wenn eine Forscherin, die vorgibt, aus dem Bereich der synthetischen Biologie zu kommen, über „digitale Kulturen“ spricht, zeigt sich, dass diese Begrifflichkeit in unterschiedlichen Wissens- und Forschungskulturen je völlig andere Bedeutungen haben und deshalb unterschiedlichen Sinn- und Verstehenswelten entstehen lassen kann.
Eine Fr. PD Dr. Lackdark von einer Technischen Universität Mannheim erläutert die Züchtung von digitalen Kulturen in Petrischalen. Dabei ruft sie unwillkürlich die Bedingtheit von Wissen durch Begriffe auf, die in unterschiedlichen Wissens- und Forschungskulturen je andere Bedeutungen haben. In den Naturwissenschaften bezieht sich der Begriff „Kulturen“ auf Petrischale, während er sich in den Geisteswissenschaften auf die Organisation des Zusammenlebens von menschlichen Aktanten in technischen Umwelten bezieht.
Die Begriffsverwirrung treibt das Interview in eine unerwartete Richtung. Eine fremde Welt entsteht, in der so genannte „digits“ Vernetzungen bilden und Informationen austauschen. Die Wissenschaftlerin spricht sehr ernst, fast schon ein wenig zu authentisch. Betrachter_innen dürften sich, je mehr das Interview fortschreitet, zunehmend die Frage stellen, ob es bei diesem Interview mit „rechten“ Dingen zugeht und Naturwissenschaftler_innen in der Tat „digits“ züchten.
Damit verweist diese Intervention auf zwei Herausforderungen. Wissen hängt erstens nicht nur von technologischen Bedingungen, sondern gleichsam in deren Vorfeld, auch von Begriffen, deren Definition und Kontexten, in diesem Fall Wissenschaftsbereichen ab. Das heißt, ob dieser epistemischen Labilität ist Wissen zutiefst prekär. Diese Konstitution dürfte in digitalen Kulturen, unter deren technologischen Bedingungen Wissen veränderbar, abhängig und hochgradig angreifbar wird, aufscheinen und zu einer wichtigen Erkenntnis werden. Ob dieser Konstitution wird es verständlich, dass Definitionen und Verortungen im akademischen Arbeiten einen hohen Stellenwert haben und ein regelrechtes Regime aufstellen. Wissen, so lautet die Erkenntnis, ist nicht substanziell, sondern Effekt von Kontexten und Begriffen, mithin von Unterscheidungen. Diese Immaterialität ist insofern eine Bedrohung, als man sich nicht mehr auf Wissen verlassen kann und nicht mehr dieses, sondern vor allem die Bedingungen seiner Möglichkeit erforschen kann; eine konstitutive Lage, die sich im Digitalen ob der tendenziellen, sei es reellen oder erzeugten Nicht-Verstehbarkeit der technischen Prozesse noch zuspitzt. Dies führt zum zweiten mit dem Interview eingespielten Aspekt. Im Interview schwingt der ständige Verdacht mit, es könnte sich um einen Fake, eine Täuschung handeln, da das Gesagte doch sehr unwahrscheinlich ist. Damit thematisiert das Interview die Konstitution von Wissen und trainiert zugleich für diese. Ob des möglichen Nicht-Verstehen als epistemischer Situation digitaler Kulturen wird der Verdacht zu deren Begleiter und Bestandteil. Es könnte immer etwas im Gange sein, das man nicht weiß und dem auf die Schliche zu kommen wäre. Paranoia wird mithin unter der Hand im Interview als Erkenntnishaltung digitaler Kulturen vorgeschlagen und zugleich in dessen Rezeption erprobt. In diesem Training wird Wissen zugleich noch unsicherer, da weder Paranoia noch die Regime der akademischen Kontrolle vor den Machenschaften digitaler Kulturen werden schützen können. An die Stelle des Begehrens nach Wissen könnte das nach Nicht-Wissen treten.
Mit dem altbekannten Prinzip des Split screen (Malte Hagener. The Aesthetics of Displays: How the Split Screen Remediates Other Media 2004) arbeitet schließlich das Projekt Simulation of conversation. Ziel ist es, durch die Verteilung von vier Interviews auf einem Bildschirm einen Austausch so zu simulieren, dass widersprüchliche Meinungen, hier zur Frage danach, was digitale Kulturen sind, aufeinander stoßen und dabei je die einzelnen Haltungen in der Differenz klarer zutage treten.
Die Idee ist bei diesem Projekt, dass mit dem Split screen die technische Konstitution digitaler Kulturen in der Art der formalen Gestaltung mit reflektiert werden kann. Denn Malte Hagener sieht die Potenziale des Split Screen darin, dass sich an den Modifikationen der Nutzungsformen und – ordnungen Medienwandel ablesen lassen. Er schreibt:
„I argue that the emphasis upon fragmented and multiplied display relates largely to the cinema’s demonstrated capacity for negotiating the meaning and significance of media change to a wider audience. Through its variegated split screens, the cinema functions as a guide to and user manual of the dangers and possibilities of technological transformation.”
Während z. B. in den 1950er Jahren die durchschlagende Omnipräsenz des Telefons zu einer Gestaltung führt, bei der zwei Personen, die sich je gleichsam am anderen Ende der Leitung befinden, auf zwei Screens gezeigt und auf einem Bildschirm zusammengeschnitten wurde, verändert sich laut Hagener das Format in den 1990er Jahren mit digitalen Medien. Nunmehr würden z. B. über vier Bildschirme verteilt vier parallele Geschichten erzählt, wie z. B. in Time Code von Mike Figgis. Diese Ordnung sei, so Hagener, Effekt der Entsemantisierung in digitalen Kulturen sowie ihrer ubiquitären Verteilung.
Mit dem Projekt Simulation of conversation wird diese unterdessen bekannte filmische Erzählweise gleichsam karikiert und damit auf ihr Wirken aufmerksam gemacht. Der Spilt screen wird hier nicht konsequent genutzt, vielmehr ist die Verteilung der Personen zufällig und beliebig. Im Gegensatz dazu folgt Time Code einem ausgeklügeten Montage-System, mit dem er erst möglich wird, eine Kontinuität in den einzelnen Geschichten und ihren Beziehungen herzustellen. In Simulation of conversation werden die Betrachter_innen dagegen mit einem Gestaltungsunwillen konfrontiert und auf sich und die von ihnen selbst erzeugten Kombinationen zurückgeworfen. Derart kommen sie mit der Illusion in Berührung, dass man das auch alles besser machen könnte. Im Aufrufen dieser Illusion stellt sich zugleich Erkenntnis in die Konstruktion und Wirkung digitalen Editings ein, sodass dieses nicht einfach nur eingesetzt, sondern zugleich auch reflektiert wird.
Mit diesem Format und der diskurs-ästhetischen Zuspitzung wird ein Schritt in Richtung einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der Interview-Serie als Beispiel für mögliche Gegenstände digitaler geisteswissenschaftlicher Forschung getan.
Die Recherche über das Internet ist ein unverzichtbarer Teil auch des akademischen Lebens geworden, wenn es als Archiv von Texten oder audiovisuellen Materialien aufgesucht wird. Dieses Archiv wird zu einem mal willkommenen Partner, dann wieder zu einer störenden Ablenkung (Vgl. Sybille Krämer. Interview „What are digital cultures?“) wissenschaftlichen Arbeitens. Letzteres tritt ein, wenn zum Beispiel während des Schreibens eines Textes diese Tätigkeit immer wieder durch kleine Ausflüge in URLs des WWW unterbrochen wird. Auch bei Vorträgen oder Seminaren, mithin in Situationen mündlicher und damit uneinholbarer Präsenz, wird gerne in deren Verlauf nach weiteren Informationen im Internet gesucht. Dies führt allerdings zu einer Verschiebung von Gehörtem und Gesehenem, mit der das Folgen des Vortrags immer schon zu spät ist und Lücken im Wissen und Verstehen entstehen. Diese Praxis und deren Auswirkungen sollen in der Intervention „Telling a research story“ in die DCRL Research Interviews Serie: „What are digital cultures“ nachvollziehbar gemacht werden, indem die Rezipient_innen ihnen ausgesetzt werden. Erkenntnis soll mithin durch Erleben ermöglicht werden. Im Hintergrund des räumlichen Settings des Interviews taucht deshalb eine Google-Suchmaske auf, die exemplarisch Suchbewegungen eines nicht sichtbaren Agenten zum Gesagten zeigt und die Rezipient_innen des Interviews von diesem ablenkt. Die eingegebenen Suchbegriffe folgen teils Schlagworten aus dem Interview, teils den Assoziationen des unsichtbaren Agenten, teils sind sie der Logik der Verlinkung von und in Seiten geschuldet. Die Intervention thematisiert mithin den Erwerb sowie die Verarbeitung von Wissen in vernetzten digitalen Kulturen, in denen jederzeit ein unübersehbares und von Nutzer_innen nur schwer kontrollierbares, da algorithmisch gesteuertes Archiv zur Verfügung steht. Man gelangt von einem zum anderen und ist ob des Suchens, Findens und Weiterklickens immer schon zu spät für das, was gerade gesagt wird. Es entsteht eine auf Dauer gestellte Präsenz, die sich aus Fragmenten von Wissensbruchstücken konstituiert, denen eine stringente Logik der Argumentation fehlt. Neben den Auswirkungen auf Wissen werden so auch Wahrnehmung und Denken von den Operationen affiziert. Mit den Konsultationen im Internet während eines Vortrages oder Seminars wird zudem eine Form der Individuierung eingespielt, die sich durch das sogenannte Multitasking als Denk- und Optimierungsweise digitaler Kulturen fassen lässt.
Von Interesse ist nun, dass und wie sich die Epistemologie des algorithmisch geregelten Wissens mit dem Multitasking verbindet. Wo sich nämlich Wissen und Individuen vervielfältigen, werden Aspekte der Wissensform digitaler Kulturen deutlich. Diese wird vor allem am „Googeln“ bei Vorträgen nachvollziehbar. Denn sie zeigen exemplarisch, dass das Internet zwar einen Zugang zu mehr Wissen garantiert, zugleich aber die Wissensproduktion vor Ort einschränkt. Es entstehen mithin Wissen sowie Subjekt als Spaltung, die Grundlage einer Gouvernementalität unabschließbarer Optimierungen sind.
Über die Bedeutung der algorithmisch gesteuerten Suche für Wissen und wissenschaftliches Arbeiten ist ausreichend spekuliert worden. Tenor der Überlegungen ist, dass die technische Konstitution der Suchmaschinen über das bestimmt, was gefragt und gefunden wird und also diese Mechanismen zumindest offen zu legen (PDF, vgl.: Wolfgang Hagen. Medienvergessenheit. Über Gedächtnis und Erinnerung in massenmedial orientierten Netzwerken, in: Oliver Dimbath, Peter Wehling (Hg.), Soziologie des Vergessens. Theoretische Zugänge und empirische Forschungsfelder, Konstanz: UVK 2011, S. 243–274), besser noch zu verändern seien. Denn Wissen wird über ein mathematisch geregeltes Ranking (PDF, vgl. Wolfgang Hagen, „Entladene Massen. Zur Krise eines Begriffs“, in: Inge Baxmann, Timon Beyes, Claus Pias (Hg.), Soziale Medien – Neue Massen, Diaphanes: Zürich 2014, S. 125–134) und nicht mehr über semantische Ordnungen organisiert. Das heißt, in digitalen Kulturen entsteht Wissen aus statischen Operationen, denen die Mitbeteiligung von Nicht-Wissen inhärent ist, das sich durch das konstituiert, was vom Ranking ausgeschlossen oder nicht gefunden wird. Die Suchmaschinen werden dabei zu Anteilen, die gemäß einer eigenen Logik operieren, ohne immer auf die Anfragen von Nutzer_innen zu antworten.
Stefan Rieger hat auf einen neuen Typus der Individuierung in digitalen Kulturen in Form schizoider Multitasker (PDF, Stefan Rieger, Multitasking – Zur Ökonomie der Spaltung, Berlin 2012) aufmerksam gemacht. Er führt aus: „Multitasking ist keine Angeberei, sondern eine ökonomische Technik, eine Form der Selbstbewirtschaftung.“ (Anne Haeming. Multitasking Zwanzig Finger und vier Augen. Interview mit Stefan Rieger, Spiegel online, 19.11.2012) Diese fuße in einer Ökonomie der Spaltung (Stefan Rieger, „Multitasking. Zur Ökonomie der Spaltung“, in: Philipp Hubmann, Till Julian Huss (Hg.), Simultaneität. Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten, Bielefeld: Transcript 2013, S. 91–110), mit der aus einem Individuum „Viele“ würden, die sich wechselseitig zu immer mehr und immer geschickter gleichzeitig ausgeführten Aufgaben antreiben und sich dabei ob der Vervielfältigung der Ich-Anteile kontrollieren und regulieren. Dies, so Rieger weiter, entspräche einer digitalen Form der Gouvernementalität, die sich als Faszination an schizoider Selbst-Optimierung und Selbst-Regelung konstituiert.
Das Zusammenspiel von Ranking-Wissen und Multitasking-Gouvernementalität zeigt sich nun im Rahmen der Konzeption für die diesbezügliche Intervention in den Interviews. Durch sie wird nachvollziehbar, dass sowohl im Setting wissenschaftlichen Arbeitens in digitalen Kulturen als auch im exemplarischen Korpus der Recherche-Interviews kein kanonisches Wissen mehr erzeugt werden kann und an dessen Stelle das Jonglieren mit verschiedenen Wahrnehmungskanälen und Wissensbruchstücken tritt. Wissen selbst wird zu einem unhintergehbaren Multitasking, zu einer Aufgabe der Vervielfältigung und Komposition.
Die nötige Reflexion dieser Kopplung von digitalem Wissen und Multitasking sollte durch die Gestaltung der inszenierten Internetrecherche in der Intervention hergestellt werden. Sie sollte zum einen nötiges Wissen für nicht-informierte Rezipient_innen zur Verfügung stellen. Zum anderen sollte sie zugleich mit ungewöhnlichen Suchbegriffen operieren, die im Kontrast zum Interview standen, so dass die Recherche über Suchmaschinen selbst auffällig und befragbar wurde. Ein probates Beispiel dafür ist der Suchbegriff „Lager“, der bei den Ausführungen des Interviewten zu „unterschiedlichen wissenschaftlichen Lagern“ eingespielt wird. Der Begriff „Lager“ eröffnet in der Suchmaschine ein breit gefächertes Ranking, das sowohl „Konzentrationslager“ als auch „Radlager“ aufruft. Zeitgleich mit dem Auftauchen der Begriffe schreitet allerdings der Vortrag voran, so dass eine Verschiebung entsteht. Dem Internet wird nachgesagt, dass es Nicht-Wissen aufhebe. Es entsteht aber vielmehr vor allem eine neue Form von Nicht-Wissen, das sich auf eine zeitliche Ordnung bezieht, da Wissen immer schon zu spät sein kann. In der Gegenwart der Mündlichkeit ist der Vortrag schon weiter vorangeschritten und das erworbene Wissen nicht mehr passgenau, sondern immer nur versetzt zuzuordnen. Es entstehen Lücken. Diese Unabschließbarkeit von Wissen korrespondiert mit der kognitiven und performativen Konstitution der multitaskenden Suchenden und Lernenden, die in der Selbstoptimierung durch Vervielfältigung nie an ein Ende kommen können. Es geht immer noch besser und noch mehr. Es ging mithin darum, die Betrachter_innen selbst die Erfahrung einer Epistemologie unabschließbaren Wissens und Multitaskings machen lassen, indem sie selbst dem Gezeigten und Gehörten nicht mehr hinterherkommen.
Da digitale Kulturen als ein „Be-in“ zu verstehen sind, die als Umwelt die menschlichen Agenten ummanteln und als solche zwar selbstverständlich, aber nicht mehr gänzlich verstehbar und nachvollziehbar sind, sollten bei allen Tätigkeiten in dieser Umwelt künftig Orte sowie Methoden der Kritik und Reflexion als integraler Bestandteil mitlaufen.
Auch die Interviews selbst sind in diesem Kontext reflektierbar zu machen. Als Teil digitaler Kulturen sind sie nämlich an deren Erzeugung und Konstitution beteiligt und sollten als solche ausgestellt und analysiert werden. Es geht um eine Reflexion von Wissen durch das Videoformat, das in digitalen Kulturen als so genannte Tools wissenschaftlichen Arbeitens eine wichtige Rolle spielt. Mit ihm entsteht ein inkohärenter Korpus, der nicht mehr, ähnlich dem Ranking des Wissens durch Suchmaschinen im Internet, einem fest gefügten Kanon folgt. Vielmehr entsteht eine Assemblage von unterschiedlichen Ansätzen und Aussagen, die nur noch partiell, aber nicht mehr im Überblick erfasst werden können. Neben der ausstehenden Entwicklung von selbstreflexiven digitalen Tools, mit denen die Interviews durchsuchbar und verarbeitbar gemacht werden können, sind mithin experimentelle Formate zu entwickeln und erproben, die eine Erforschung, Reflexion und Kritik des Wissens der Interviews ermöglichen.