Martina Leeker, Oktober 2016
Split Screen: „Diskurse“ und Split Screen: „Digital Cultures“
Die Research-Interview-Serie „DCRL Questions – What are digital cultures?“, seit Herbst 2013, versammelt unterdessen 100 Interviews mit Wissenschaftler_innen aus unterschiedlichen Disziplinen sowie mit Künstler_innen. Verhandelt werden die Fragen: Was sind digitale Kulturen, was sind deren Chancen bzw. Gefahren und was liegt jenseits von ihnen? Ziel ist es, einen Überblick zur Forschung zu digitalen Kulturen zu erstellen.
Auf Grund der Anzahl sowie der audiovisuellen Verfasstheit der Interviews steht in Frage, wie das Material wissenschaftlich ausgewertet und weiterverarbeitet werden kann. Denn es bedarf im Vergleich zum geisteswissenschaftlichen Forschen mit Texten neuer Methoden und sogenannter Tools, um den Corpus zu erschließen. Indem die Interviews, bezogen auf das räumliche Setting sowie die Stereotypie der Fragen, möglichst einheitlich gehalten sind, wurde bereits eine gestalterische und konzeptuelle Vorentscheidung für die Erforschung getroffen. Diese Konstitution der Interviews ermöglicht es nämlich z. B. im Format des „Split Screen“ Zusammenschnitte aus dem umfangreichen Material auf einem Monitor für vergleichende Analysen zu erstellen.
Ein formalisiertes, digital basiertes Tool zur Auswertung der Interviews steht aus. Von Interesse wäre etwa eine Plattform, auf der die Interviews geschnitten, in einer Datenbank abgelegt und nach Kategorien, gegebenenfalls auch automatisiert, durchsucht werden könnten. Mit Hilfe technischer Möglichkeiten könnte auf diese Weise eine dynamische und kollaborative Forschungsplattform entstehen, in der Nutzer_innen selbst Filmclips schneiden und in der Datenbank zur Verfügung stellen. Aus diesem Pool könnten unterschiedliche Zusammenstellungen entstehen und archiviert werden. Es wäre zudem denkbar, dass in dieser Umgebung Technologien des „Profiling“ einer anderen, als der bis dato präferierten ökonomischen oder datenpolitischen Nutzung zugeführt werden, würden sie etwa, mit dem Einverständnis der Nutzer_innen, für die Speicherung und Analyse von deren Forschungswegen durch das Material eingesetzt. Dies wäre von besonderem Interesse, da zum einen die Suche in der Datenbank sowie die vielfältigen Montagen, die mit ihr angefertigt werden, die Diversität der Forschung zu digitalen Kulturen kenntlich machen würden. Zum anderen könnte – etwa mit der Zuordnung von Suchläufen zu wissenschaftlichen Disziplinen – untersucht werden, ob und inwieweit der Zugang zum Material von diesen abhängt. Auf diese Weise würde das Nachvollziehen der Forschung selbst zu einem Forschungsbeitrag. Es könnte mithin ein dynamisches Archiv der Forschung zu digitalen Kulturen entstehen, mit dem Ordnungen, Kategorien oder Phasen von Forschung markiert werden. Die Entwicklung und Umsetzung solcher Funktionalitäten wäre also deshalb von Nutzen, weil immer mehr Forschungsgegenstände digitaler Kulturen u. a. in audiovisueller Form vorliegen. Das heißt, die Interviewserie steht exemplarisch für mögliche Gegenstände sowie für Herausforderungen an Forschungsmethoden in digitalen Kulturen. Eine Forschungsplattform würde es zudem ermöglichen, zu erproben und zugleich zu reflektieren, wie sich wissenschaftliches Arbeiten durch die Nutzung sogenannter digitaler Tools verändert. Ein erster Versuch zur datenbankbasierten Analyse der Interviewserie wurde mit der Software Korsakow unternommen.
Im Rahmen der Forschung mit den Interviews am DCRL wurde bereits mit „Interventions in interview videos“ gearbeitet. Diese hatten das Ziel, Methoden zu konzipieren und zu erproben, die mit Hilfe ästhetischer Interventionen in die Filme eine Reflexion des Formates und seiner Wirkungen ermöglichen. Denn, so im Text zu diesem Projekt: „ […] die technologischen Bedingungen der Interviews sowie deren narrative und ästhetische Inszenierung wirken an dem mit, was ausgesagt und wie es rezipiert wird.“
Mit dem hier vorgestellten Projekt zu Experimenten mit den Interview Videos, rückt nun eine andere Forschungsaufgabe in den Vordergrund. Es geht darum, Formate und Methoden zur Erforschung der Interviews auszuloten. Der Fokus liegt dabei auf den Möglichkeiten, die auf Grund filmischer Methoden zur Verfügung stehen, wie z. B. Montagen oder Kamera-Settings. Anschließend werden die Potenziale der entwickelten Formate und Methoden durchgespielt. Dabei ist davon auszugehen, dass jede Art der Bearbeitung schon eine Interpretation des Materials ist. Deshalb wären solche Gestaltungsweisen zu entwickeln, die die Bearbeitungsarten reflektierbar machen. Aufgabe der Experimente ist es mithin nicht, neue Formen der Erforschung und Repräsentation für eine als „messy“ erkannte und anerkannte Wirklichkeit zu finden. So wird es z. B. derzeit in den Sozialwissenschaften gefordert und diskutiert (Vgl.: Celia Lury, Nina Wakeford (Hg.), Inventive Methods: The Happening of the Social, London: Routledge 2012). Vielmehr geht es darum, experimentell, d. h. in der praktischen Recherche und Erprobung, Forschungsmöglichkeiten zu erkunden und zugleich Methoden zu erarbeiten, um diese zu reflektieren. Es werden drei Optionen erprobt.
Das Format des Split Screen wird im Projekt „Split Screen. Ein Material – viele Interpretationen“ als Methode für vergleichende Analysen getestet. Durch die Montage der teils gleichen Clips werden gleichwohl unterschiedliche Aussagen getroffen, die je zu anderen Forschungsergebnissen zu digitalen Kulturen führen. Zu einer Auswahl aus dem Angebot der Interviews gelangt man entweder geleitet von Beobachtungen digitaler Kulturen bzw. der Diskurse über sie. Damit wird eine Filterung vorgenommen, mit der auf Grund einer vorab eingenommenen Haltung zu digitalen Kulturen die Teile aus der Serie ausgewählt werden, die die Voreinstellung am besten repräsentieren können. Oder aber Erkenntnisse stammen erst aus dem Umgang mit dem Material selbst und entstehen mit der Sichtung und Kategorisierung der Interviews. Im Kontext dieser beiden Arbeitsformen werden Wissen und Forschung relativiert und stehen nicht länger für eine Suche nach „Wahrheit“ oder „Richtigkeit“. Es geht nun vielmehr um Modulierbarkeit. In der zuletzt genannten Entstehung von Wissen erhält Forschung zudem eine Selbstbezüglichkeit, die mit dem Status von Wissen und Wissenschaft in digitalen Kulturen auf eine besondere Weise korrespondiert. So haben u. a. Orit Halpern in ihrer Forschung zu Test-Umgebungen (Orit Halpern, Jesse LeCavalier and Nerea Calvillo, „Test-Bed Urbanism“ in: Public Culture März 2013. PDF) oder Claus Pias in Untersuchungen zu Computersimulationen (Claus Pias, On the Epistemology of Computer Simulation, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, Volume 2011, Nr. 1, 2011, S. 29–54) darauf aufmerksam gemacht, dass ein Umbruch im wissenschaftlichen Arbeiten sowie bezogen auf Wissen für digitale Kulturen konstitutiv ist. Es gehe nämlich weniger um die Entwicklung einer Theorie, als vielmehr um das Re-Design von experimentell oder in formalisierten Modellierungen gewonnenen Wissensbeständen und Wirklichkeiten. Bezogen auf die Interviews heißt das, dass im „Wissensbecken“ der Interviews erst Wissen generiert und in diesem selbstbezüglich re-designt wird. Die Offenlegung und Reflexion von Art, Epistemologie und Politik dieses Wissens im Re-Design werden zu einer wichtigen Aufgabe, um z. B. deren Subjekte konstituierenden oder gouvernementalen Qualitäten zu untersuchen. Dies zu ermöglichen, werden im Projekt unterschiedliche Versionen der Kompositionen von Interviews in Split Screens erstellt und präsentiert. Denn erst wenn mehrere Split Screen Projekte mit Interviews zur Verfügung gestellt werden, können die Relativität dieser Forschungsmethode sowie die Effizienz der Selbstbezüglichkeit von Wissen in digitalen Kulturen verdeutlicht werden.
Ein weiteres Format entstand auf Grund einer äußeren Notwendigkeit. Während einer Konferenz wurde es unerlässlich, das einheitliche, stationäre Setting der Interviews zu verlassen, um die teilnehmenden Wissenschaftler_innen zu interviewen. So entstanden erste Interviews mit unterschiedlichen, bewegten Hintergründen, die auf Erscheinungsbild und Wirkung ersterer Einfluss nehmen. Denn sie ziehen die Aufmerksamkeit auf sich und sie geben den Interviews einen eigenen, wenig neutralen Rahmen. So macht es einen Unterschied, ob ein Interview ersichtlich im Kontext einer Konferenz oder auf einem Sofa stattfindet. Im Projekt „Lausche dem Hintergrund“ wird die Arbeit mit verschiedenen Hintergründen auf ihre Effekte hin ausgewertet. Dazu werden aus den Videos sogenannte Stills herauskopiert und dem Text beigefügt, um die Besonderheiten der Hintergründe herauszustellen und zu veranschaulichen. Auf diese Weise soll eine Typologie der kognitiven sowie auf Wahrnehmung bezogenen Herausforderungen von Hintergründen entstehen. Ziel ist es, eine Art Katalog der Rhetorik von Hintergründen in der experimentellen Arbeit zu erstellen. Dieser Katalog hat weniger normativen als vielmehr reflexiven Charakter. Denn in diesem Projekt geht es darum, das Prinzip des Hintergrunds als eine Reflexionsfolie von Forschung in digitalen Kulturen zu erschließen. Als Bezugsrahmen dafür werden die Überlegungen zum Chor im Theater von Ulrike Haß herangezogen (Ulrike Haß, „Eine andere Geschichte des Theaters. Gespräch mit Marita Tatari“, in: Marita Tatari (Hg.), Orte des Unermesslichen. Theater nach der Geschichtsteleologie, Berlin/Zürich: diaphanes 2014, S. 77–90). Haß zeigt, dass das Verhältnis von Chor und Protagonist als Konfiguration und damit als flüchtiges, immer neues und damit fixe Ordnungen unterlaufendes Relationsgefüge angesehen werden muss. In diesem Gefüge geht es um einen Entzug von Weltordnung nach Sinn- und Zweckbestimmung, diesen Garanten teleologischer Modelle, der durch die Vielheit der Stimmen hervorgerufen wird (Vgl. Marita Tatari, „Zur Einführung. Theater nach der Geschichtsteleologie“, in: Marita Tatari (Hg.), Orte des Unermesslichen – Theater nach der Geschichtsteleologie, Berlin/Zürich: diaphanes 2014, S. 7–21). Ob dieser Verfasstheit wird das Verhältnis von Figur und Hintergrund, das den Chor prägt, als Reflexionsfolie in den Interviews herausgearbeitet. Dabei geht es allerdings nicht darum, eine vermeintlich bessere, auf Flexibilität beruhende Weltordnung zu erhoffen, wie dies bei Ulrike Haß und Marita Tatari anklingt. Vielmehr handelt es sich um die Ausformulierung und Etablierung einer Methode und Haltung der Relativierung von Forschung und Welterklärungsmodellen, die mit den bewegten Hintergründen als Chorische zustande kommt. Damit stehen sie für Kontingenz, Heterogenität, Vielheit und Transformativität von Weltsichten.
Schließlich wird drittens im Experiment „Technosphärische Spiele“ (Videoessay: Oona Braaker) das Format des Video-Essays (Cristina Álvarez López & Adrian Martin, Introduction to the audiovisual essay: A child of two mothers, NECSUS European Journal of Media Studies, Herbst 2014) genutzt, auch audiovisual essay oder digital criticism genannt. Dieses Formt wird derzeit in der Filmwissenschaft verstärkt eingesetzt, um im Film sowie mit filmischen Mitteln über Film, oder andere Medien, zu reflektieren (Felix Stephan. Video-Essays: Filme über Filme. Zeit Online, August 2015). Diese Arbeitsweise kann einen eher populärwissenschaftlichen (Vgl. Tony Zhou, Jackie Chan. How to do action comedy, 2014) oder einen avantgardistischen Zugang aufweisen. Im hier vorgestellten Video-Essay wird das Interview mit dem Medienwissenschaftler Mark B. Hansen mit visuellen Zusätzen versehen. Dieses Experiment verfolgt dabei andere Ziele als die bisher für den Video-Essay dargelegten. Es sollen nämlich weniger Reflexionen über das Medium Film vorgenommen (Vgl. dazu das Projekt mit Interventionen in Interviews), als vielmehr mit Hilfe von Filmausschnitten und Bildern das Interview, und nicht der Film, gleichsam zum Reden gebracht werden. In diesem Projekt wird mithin mit den Möglichkeiten und Wirkungen der Analyse eines Interviews durch filmische Mittel experimentiert. Dies zu tun, wurde die Tonspur mit Bewegtbild-Oberflächen versehen, die das Gesprochene illustrieren oder aber konterkarieren. Ziel war es, auf diese Weise die diskursiven Effekte der Überlegungen von Hansen zu digitalen Kulturen herauszuarbeiten. Dieser Zugriff wird als nötig erachtet, da Mark B. Hansen in seinem Interview eine Medientheorie der Techno-Ökologie vertritt, die einige problematische Aspekte mit sich führt. Die menschlichen Agierenden sollen z. B. auf einer vorbewussten Ebene von smarten technischen Dingen vermessen und affiziert werden. Auf diese Weise würde, so der Interviewte, trotz aller kritischen Einwände gegen eine nicht mehr zu unterbindende affektive Manipulation durch digitale Umwelten, mehr Wissen über Menschen generiert. Diese beiden Seiten eines Seins, nämlich Vermessung und Wissen, in technischen Umwelten nutzt der Video-Essay, um auf der filmischen Ebene eine Auseinandersetzung mit dem techno-ökologischen Diskurs und einem sich abzeichnenden Dispositiv des Technosphärischen immer dann einzuspielen, wenn die affirmativen Seiten im Interview überhandnehmen.
Einstieg
Jedes der ca. 100 Interviews des Forschungsprojekte mit den Video-Interviews „What are digital cultures?“ kann auf Grund der Formulierung eines eigenen Zugangs zu den Fragen für sich stehen. Da in den Interviews sehr unterschiedliche Analysen präsentiert werden, zeugen sie mit diesem Status von einer hohen Diversität der Forschung zu digitalen Kulturen. Dies ist ein erster Befund aus der Untersuchung des Materials, der allerdings tiefer zu legen ist. Die Diversität wird hier nämlich vor allem als ein Symptom angesehen. Denn sie steht für eine derzeit stattfindende Umbruchphase, in der in medien- und kulturwissenschaftlicher Forschung ob grundlegender technologischer Veränderungen vor allem Suchbewegungen stattfinden. These ist, dass sich derzeit im Vakuum des Umbruchs neue Diskurse formieren, die „Medien“ und damit tradierte Formen von Medienwissenschaft überwinden, die auf Einzelmedien fokussierten. An deren Stelle treten die Betonung der Ubiquität und Alltäglichkeit technischer Umwelten und Infrastrukturen, mit der die Interaktion von Mensch und Technik in sozio-technologische Handlungs-Ensembles überführt werden soll.
Suchbewegungen und diskursive Positionierungen
Diese diskursiven Suchbewegungen verfestigen sich derzeit unter dem Dach dieser gemeinsamen Grundannahmen zu unterschiedlichen, sich teils strategisch voneinander absetzenden Ansätzen und „Schulen“, wie z. B. anhand von großen geförderten Forschungsprojekten erkennbar wird. So fokussiert etwa der SFB „Medien der Kooperation“ an der Universität Siegen auf eine praxistheoretische Wende in der Medienwissenschaft, die zur Analyse von symmetrischen Handlungsagenturen zwischen Menschen und technischen Dingen und Infrastrukturen strebt. Das „Internationale Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie“, IKKM, an der Bauhaus-Universität Weimar setzt dagegen auf eine Reformulierung der Medienwissenschaft durch eine Konzentration auf eine im Vergleich zum „Diskurs der Kooperationen“ auf technologische Bedingungen fokussierende Kulturtechnikforschung. Mit dieser treten, vergleichbar mit dem Siegener SFB, ebenso Praktiken in den Vordergrund und das Anthropologische unterliegt einer Re-Definition in Richtung einer technologischen Mensch-Werdung (Vgl. Kompetenzzentrum für Medienanthropologie, KOMA, Christiane Voss, Bauhaus-Universität Weimar). Eine konzise Theorie für die Beschreibung digitaler Kulturen will die Techno-Ökologie (Exemplarisch: Erich Hörl/Jörg Huber, Technoökologie und Ästhetik. Ein Gedankenaustausch, 2012, PDF) entwerfen, mit der die Ubiquität und Umweltlichkeit von Medien herausgestellt wird, sodass affektive Technosphären und nervöse Systeme (Exemplarisch: Nervöse Systeme. Quantifiziertes Leben und die soziale Frage, Anselm Franke, Stephanie Hankey & Marek Tuszynski, Haus der Kulturen der Welt, Berlin) zum Status Quo der neuen technologischen Lage werden. Im sogenannten „Lüneburger Ansatz“ wird schließlich nicht mehr vor allem auf die Reformulierung der Medienwissenschaft durch eine Erweiterung ihrer Forschungsgegenstände und -methoden gesetzt. Sie soll vielmehr in eine transdisziplinäre, medienwissenschaftlich informierte Kulturwissenschaft überführt werden. In dieser werden technische, soziale oder diskursive Apriori aufgehoben, die in der Medienforschung in unterschiedlichen Disziplinen entwickelte wurden, und statt derer von einem Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren ausgegangen. Das Herzstück dieser Kulturwissenschaft ist, neben der avisierten Transdisziplinarität, die Selbstreflexion der Forschung zu den allgegenwärtigen und alltäglichen digitalen Kulturen. Diese wird auch durch die Projekte von „Experiments&Interventions“ am DCRL erprobt und reflektiert. Dies geschieht exemplarisch mit Mitteln der ästhetischen und performativen und im Sinne einer diskursanalytischen Reflexion „künstlerischen Forschung“.
Split Screen zur Selbstreflexion der Forschung
Die Interviews stehen also nicht nur für die Diversität der Forschung zu digitalen Kulturen, wie es ob ihrer Vielstimmigkeit auf den ersten Blick erscheinen könnte. Die Interviews können zwar im Hinblick auf diese ausgewertet und z. B. nach Themen oder ähnlichen Aussagen kategorisiert werden. Auf Grund der oben skizzierten Entwicklung, die sich als Diskurslandschaft schwacher Ontologien beschreiben lässt, ist es aber zudem wichtig, diese auszustellen und eine Selbstreflexion der Forschung zu digitalen Kulturen zu ermöglichen.
Eine probate Methode, um diese Auswertungen vorzunehmen oder deren Ergebnisse zu präsentieren und zugleich eine Selbstreflexion zu initiieren, ist das Format des Split Screens, mit dem unterschiedliche Ausschnitte aus Interviews auf einem Bildschirm zusammengestellt werden können. Auf diese Weise können z. B. Forschungsthemen oder widersprüchliche Meinungen ebenso montiert wie eine Forschungsmeinung fokussiert werden. Das heißt, in einer vergleichenden Analyse lassen sich, ausgehend von der soeben vorgenommenen symptomatischen Analyse aktueller Diskurslandschaften sowie unter der Berücksichtigung tradierter Forschungsansätze und -methoden der Medienwissenschaft, Split Screens zusammenstellen.
Der Split Screen ist für diese Aufgabe in besonderer Weise geeignet, da er auf Grund der sichtbaren Montage als epistemologischer Apparat wirksam wird. Die Montage ist immer schon in ihrer Gemachtheit ausgestellt und somit befragbar. So kann z. B. eine Montage sich widersprechender Einwürfe eine diskurskritische Analyse (Splitscreen „Diskurse“) evozieren. Werden dagegen die Motti der schwachen Ontologien (Splitscreen „Digital Cultures“) als das Neue digitaler Kulturen zusammengestellt, so kann dies in der Massierung wie eine Über-Affirmation erscheinen und auf dieser Grundlage zur Reflexion aufrufen.
Entscheidend dafür, dass die Selbstreflexion ausgelöst und stabil gehalten werden kann, ist die Vervielfachung der Split Screens. Sie sollten nicht alleine auftauchen, sondern im Verbund von mehreren, möglichst unterschiedlichen Versionen, ihren eigenen Entschlüsselungs-Kontext immer schon mitliefern. Das heißt, sie bilden eine nicht zu vereinheitlichende Vielheit. Der Split Screen, der selbst schon Viele ist, ist mithin immer von anderen Vielen umgeben.
Split Screen: „Themen“
Im Splitscreen 1 „Themen“ wurden Forschungsthemen zu digitalen Kulturen zusammengestellt, über die Interviewte sprechen. Während Marie-Luise Angerer eine gleichsam allgemeine Beschreibung digitaler Kulturen als vernetzte Kulturen gibt, fordert Florian Sprenger eine alternative Geschichte digitaler Kulturen zu erarbeiten. In dieser ginge es z. B. eher um die Geschichte der Kabel als die der Interfaces sowie um die Analyse von Adressierungen als darum, die Geschichte sozialer Netzwerke zu erschließen. Damit schreibt sich Florian Sprenger in die Tradition der technikgeschichtlich fundierten und epistemologisch orientierten Medienwissenschaft ein. Mit dieser würden andere „Geschichten“ und Forschungsergebnisse entstehen als z. B. in soziologischen oder ethnografischen Untersuchungen, die zumeist die technologischen Bedingungen ihrer Gegenstände wenig beachten. Denn eine Geschichte der Adressierung in sozialen Netzwerken würde von Taktungen und Adressen und damit von Überwachung und Verfolgung erzählen und weniger von Kommunikation. Auch wenn es unter den aktuellen technologischen und epistemologischen Bedingungen wichtig ist, medien- und kulturwissenschaftliche sowie soziologische Fragestellungen und Methoden in einen Austausch zu bringen, so sind deshalb doch die materiellen Bedingungen digitaler Kulturen nicht auszublenden. Sie bestimmen sicher nicht allein die Lage, konstituieren aber doch, was technisch möglich ist und wie sich dies in die Handlungs-Ensembles und Praktiken einschreibt. Stefan Rieger kommt in diese Geschichte hinein mit einer wiederum allgemeinen Beschreibung der Verfasstheit digitaler Kulturen. Sie seien „überall“ und „alltäglich“, „nicht mehr sichtbar“ und „pervasive“. Umso wichtiger ist es, so wäre vielleicht mit Florian Sprenger anzumerken, die technologischen Bedingungen zu berücksichtigen. Shannon Mattern erweitert diese Grundlegung um die Untersuchung der materiellen Umwelten, in die digitale Technologien eingelassen sind. Andreas Bernard beschreibt sein aktuelles Forschungsvorhaben, in dem er den Bedingungen nachgeht, in digitalen Kulturen ein Selbst auszubilden. Dieses firmiert unter den Technologien und Praktiken des Profiling. Von Relevanz ist, dass damit ehemals kriminalistische Techniken in den individuellen Gebrauch übergehen. Markus Rautzenberg hebt als Besonderheit digitaler Kulturen hervor, dass sich in ihnen eine Epistemologie der Differenz entwickeln würde, die nicht mehr an binäre Ordnungen gebunden sei. Auf Grund der technologischen Bedingung, dass Unterschiedliches ineinander verwandelbar ist, wäre Differenz neu zu denken, etwa bezogen auf Geschlechterrollen oder Ordnungen der Macht. Elena Esposito pocht auf eine Genese digitaler Kulturen in der Kybernetik der 1950er Jahre, in der es vor allem um Fragen der Kontrolle von technischen und sozialen Systemen ging. Hier wird eine medienwissenschaftlich informierte Soziologie aufgerufen, die die Interaktionen von Mensch und Maschine unter den Aspekten von Kommunikation, Kontrolle und Regelung betrachtet.
Mit dem vorgestellten Zusammenschnitt entsteht als Befund für eine Sondierung digitaler Kulturen und ihrer Erforschung der Eindruck, dass sie einen Fokus auf Fallstudien habe, in denen es vor allem um Fragen zur techno-logischen Konstitution des Seins sowie der Selbst-Werdung geht. Diese sind eingelassen in vernetzte Kulturen von Kontrolle und Regelung.
Deutlich wird mit dem Projekt auch, welche Art der Theoriebildung die Split-Screen-Montage ausbildet. Sie operiert mit mottoartigen Kernsätzen, die einen Ansatz holzschnittartig herauspräparieren. Diese werden mit Namen und Porträts verbunden. Sie zeugen aber nicht von Individualität. Vielmehr werden die Gesichter zu Markern für schnell wieder erkennbare Statements. Forschung mit Split Screens tendiert zur Schematisierung.
Split Screen: „Diskurse“
In den beiden Arbeiten Splitscreen 2 „Diskurse“ und Splitscreen 3 „Diskurse“ wird ein anderes Konzept umgesetzt. Es werden verschiedene Meinungen und Ansätze, die sich widersprechen, so zusammengesetzt, dass sie bei den Betrachtenden Verwirrung und vielleicht auch Widerstand erzeugen. Ziel ist es, eine diskursanalytische Kompetenz auszurufen.
Diese scheint deshalb von Nöten, weil – wie in der eingangs dargelegten Forschungslandschaft markiert – wissenschaftliche Forschung aus einem genealogischen Ansatz, wie ihn die Medienwissenschaft pflegte, zunehmend mit auf schwache Ontologien zurückgreifender Theoriebildung konkurriert. Es geht nicht mehr darum, wie es geworden ist und auch anders sein könnte. Vielmehr werden Beschreibungen dessen, wie es ist, zu Aussagen über Zustände und Seinsweisen. Diese Bruchstelle soll in der Montage der Interviews markiert und befragt werden. Denn auch wenn es nötig ist, für digitale Kulturen ob deren Ubiquität, Alltäglichkeit und Umweltlichkeit neue Beschreibung zu entwickeln, so sollten diese doch ihre eigene Genealogie sowie ihre epistemologischen und gouvernementalen Effekte im Auge haben.
Diese kritisch-reflektierende Haltung zu ermöglichen, werden solche Einwürfe der Interviewten, die aus einem beschreibend-ontologisierenden Ansatz kommen, konterkariert mit solchen Überlegungen, die einem medienwissenschaftlichen, technik- und wissensgeschichtlich orientierten Ansatz oder einer kulturkritischen Perspektive verpflichtet sind. Auf diese Weise soll eine Reflexion der Betrachter_innen ermöglicht werden, in der die verschiedenen Haltungen untereinander abgeglichen werden. Wenn etwa Stefan Rieger von der Ubiquität digitaler Kulturen spricht und Alexander Firyn „Digitale Kulturen“ für einen „Marketingbegriff“ hält, wozu sich Christopher Kelty mit der Aussage fügt, dass es um einen globalen Kapitalismus ginge, dann sollten die aktuellen Ontologien ein wenig gestört und reflektierbar werden. In diesem Kontext ermöglicht das Verbleiben der Bilder einzelner Personen eine Orientierung an den sich relativierenden Haltungen und Einschätzungen.
Im Splitscreen 3 „Diskurse“ wird bei der fast identischen Kombination der Personen auf Namensnennungen in „Bauchbinden“ verzichtet und es entsteht ein anderes Verhältnis in der Sichtbarkeit von Männern und Frauen. So kann die Frage erkundet werden, ob Namen und Geschlecht bei der Forschung zu digitalen Kulturen eine Rolle spielen und wenn ja, welche.
Split Screen: „Digital Cultures“
Der Splitscreen 4 „Digital Cultures“ folgt wiederum einem anderen Konzept. Hier werden solche Ausschnitte zusammengestellt, die auf die Neuartigkeit und Einzigartigkeit digitaler Kulturen verweisen. Auch hier erfolgt die einleitende Beschreibung durch den Part von Marie-Luise Angerer. Im Kontext dieser Arbeit gewinnt allerdings der Teil ihrer Beschreibung digitaler Kulturen als vernetzte Kulturen mehr Gewicht, in dem sie ausführt, dass sie wie „unsichtbares Band“ seien. Dies sticht heraus, wenn es bei Stefan Rieger weiter heißt, dass digitale Kulturen überall sind, aber als solche unsichtbar und Hans Ulrich Gumbrecht betont, dass dem Menschen in digitalen Kulturen göttliche Omnipräsenz zu käme. In einem solchen Kontext erscheint die Analyse von Philip Mirowsky schon vergleichsweise harmlos, dass digitale Kulturen aus der Geschichte des Neoliberalismus zu erkunden seien und in einem globalen Kapitalismus münden. Mit den Positionen von Nishant Shah und Geert Lovink sowie Orit Halpern werden die sozialen Aspekte digitaler Kulturen eingespielt. Sie gelten als Medien, die soziale Organisation und politische Arbeit ermöglichen. Noortje Marres betont die Potenziale digitaler Kulturen. Sie würden die lange Tradition in den Geisteswissenschaften sowie der Soziologie überwinden, in der das Festlegen von Bedeutungen und Interpretationen fokussiert wurde, und auf praktische Aspekte wie Problemlösung und Re-Design setzen. Die Serie schließt mit der Einschätzung von Peter Galison, dass wir gerade erst begonnen hätten, die Oberfläche digitaler Kulturen zu berühren.
Mit diesen Beiträgen wird gleichsam nach vorne geschaut auf die Möglichkeiten digitaler Kulturen. Dieses Split-Screen-Projekt könnte auf den ersten Blick wie eine Art Promotionvideo für digitale Kulturen erscheinen. Zugleich ist es gerade die vermeintlich optimistische und das Neue und Ungewöhnliche betonende Haltung und Atmosphäre, die nachdenklich macht und auf die Konsequenzen der Beschreibungen verweist. Auf diese Weise büßen sie ihren ontologisierenden Status ein, der Symptome zu Seinsweisen erklärt, und eröffnen Standorte und Positionen der Kritik.
Gerade aus der Arbeit mit dem zuletzt genannten Split-Screen-Projekt folgt, dass die Forschung zu digitalen Kulturen diese mit hergestellt. So kann ein Interview je nach Kontext entgegengesetzte Bedeutungen erhalten. Die Bedeutung entsteht in der Aufarbeitung der Interviews; also weniger in diesen selbst, als vielmehr im Schnitt.
Forschung in digitalen Kulturen: Re-Design
Eine weitere Vermutung entsteht aus der wissenschaftlichen Arbeit mit den Interviews. In der Arbeit mit diesen neuen Forschungsgegenständen geht es weniger um Theoriebildung, als vielmehr um Formate des Re-Designs. Dies zeigt sich exemplarisch an der Arbeit mit den Interviews im Format des Split Screens. In diesem werden Wissenspartikel neu zusammengebaut, getestet und wieder verändert. Aus dem einzelnen Design entsteht zwar Erkenntnis. Diese kann aber nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, aus einer Auseinandersetzung mit einer wie auch immer verfassten Wirklichkeit zu entstehen, oder einen Anspruch auf „Wahrheit“ zu haben. Vielmehr kreist die Arbeit mit den Interviewpartikeln selbstbezüglich im Becken der Interviews und deren Komposition. Im Fokus steht dabei die interessanteste Komposition und nicht die richtige Aussage. Damit werden die Erstellung der Interviews und die Arbeit mit ihnen zu einer Metapher für Wissen und Wissenschaft in digitalen Kulturen.
So schreiben sich die Experimente mit der Erforschung der sowie der Forschung mit den Interviews in einen Umbruch wissenschaftlichen Arbeitens sowie von Wissen ein, die für digitale Kulturen konstitutiv sind. In diesen geht es weniger um die Entwicklung einer Theorie, als vielmehr um das Re-Design von experimentell (Orit Halpern, Jesse LeCavalier and Nerea Calvillo, „Test-Bed Urbanism“ in: Public Culture, März 2013, PDF) oder in Simulationen (Claus Pias, On the Epistemology of Computer Simulation, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung,Volume 2011, Nr. 1, 2011, S. 29–54, PDF) gewonnenen Wissensbeständen und Wirklichkeiten. So schreiben Orit Halpern und Gökçe Günel am Beispiel der Smart City „Songdo“:
„Songdo, therefore, must be understood not as a city but […] as a ‘test-bed’. It is a platform for testing these parametrically designed and generated cities; and it is part of a global ‘demo’ ethos that brings us endless versions, updates, and trials—comprised of constant feedback loops between market research, personalization, and product development. Songdo might fail, but this is only a temporary problem, to encourage the next version, a better ‘smart’ city in Rio or New York or Shenzhen, another prototype. Just as car accidents are regularly re-performed on auto-manufacturer test-beds, so in the case of these massive infrastructures any failure can be contained and managed. Such failures are even the platforms that allow developers to prepare the next version; […].“
Günel/Halpern, „Demoing unto Death: Smart Cities, Environment, and Apocalyptic Hope“, S. 8., PDF
Es geht mithin um eine Epistemologie von Simulation und Test-Umgebungen, in der Wissen und Design aus Selbstbezüglichkeit entstehen und sich ohne Unterlass bei etwaigen Problemen selbst reparieren. Diese Selbstbezüglichkeit von Wissen wird da zum Tenor der Beschreibungen von digitalen Kulturen, wo sie als eine alles umfassende Technosphäre bezeichnet werden. Auch diese ist selbstbezüglich und interessiert sich für ein Außerhalb nur deshalb, um so viel wie möglich von diesem zu integrieren.
Bezogen auf die Interviews heißt das, dass im „Wissensbecken“ der Interviews erst Wissen generiert und in diesem dann selbstbezüglich re-designt wird. Man ist immer drin und die Split-Screen-Methode mit den Interviews wiederholt dies in der Montage als Praxis des Re-Design. Die Interviews sind gleichsam selbst ein Experimentierfeld und ermöglichen die Form des Wissens digitaler Kulturen. Der Bezug zu einer eigenständigen, äußeren Wirklichkeit verliert an Relevanz.
Es scheint fast so, als wäre diesem Prinzip kaum mehr zu entkommen, so dass die Reflexion und mithin Offenlegung von Art, Epistemologie und Politik dieses Wissens im Re-Design zu einer wichtigen Aufgabe wird. Denn mit dem experimentellen Wissen entstehen zugleich ein Regime und eine Epistemologie des Nicht-Wissens und Nicht-Verstehens, die eine eigene gouvernementale Wirkung zeitigten. Wo man nicht wissen kann, da wird auch strategisches Blackboxing technologischer Bedingungen nicht mehr als bedrohlich empfunden.
Mit den Interviews kann diese neue Wissensform eingeübt und zugleich an der Verschiedenheit der Ergebnisse reflektiert werden. Diese Methode der Vielheit, Alterität sowie der Differenz ist unerlässlich, werden diese doch gerade durch technologische Bedingungen der Technosphäre sowie Theorien zu dieser aufgelöst. Denn im Testbett gibt es keinen Unterschied mehr: Wort ist Tat und jeder Unfall nur eine weitere Testphase.
Einstieg
Das Experiment „Technosphärische Spiele“ (Video-Essay: Oona Braaker) mit dem Interview von Mark B. Hansen entstand aus einem Mangel. Dieses Interview lag nur als Tondokument vor, weshalb die Idee aufkam, es mit Bewegtbildern und Abbildungen zu versehen. Im Laufe der Arbeit am Projekt entstand ein Video-Essay (Felix Stephan. Video-Essays: Filme über Filme. Zeit Online, August 2015). Video-Essays entsprechen einer methodologischen Entwicklung in der Filmwissenschaft in digitalen Kulturen und dienen der Analyse von Filmen mit filmischen Mitteln. Im Video-Essay innerhalb der Interview-Serie wurde diese Methode modifiziert, um sie für eine inhaltliche Analyse des Interviews mit bildlichen und filmischen Möglichkeiten einsetzen zu können. Dazu wurde die Tonspur mit Bildoberflächen versehen, die das Gesprochene illustrieren oder aber konterkarieren. Ziel dieser Gestaltung ist es, die diskursiven Konsequenzen der im Interview vertretenen Analysen digitaler Kulturen auszustellen. Denn sie sind Teil eines techno-ökologischen Denkmodells, nach dem menschliche Agierende untrennbar mit technischen Umwelten verwoben sind. Diese Sicht arbeitet einem Dispositiv des Technosphärischen zu. Dieses könnte, so die These, ausschlaggebend dafür sein, dass menschliche Agierende in digitalen Kulturen trotz des Wissens um die Nutzung von Daten zum Zwecke von Überwachung und Profiling oft ohne viel Reflexion Unmengen an Daten generieren. Wenn Mark B. Hansen im Interview die Vorteile eines techno-ökologischen Seins dargelegt, in dem Medien einen affektiven Status erhalten und deshalb Abgrenzungen zwischen menschlichen und technischen Umwelten diffundieren würden, dann werden auf der visuellen Ebene zu diesen Aussagen in Widerspruch tretende Bilder präsentiert. Auf diese Weise soll bei Betrachtenden ein analytischer Prozess ausgelöst werden, mit dem an die Stelle des technosphärischen Behagens ein Unbehagen an den technologischen Verkörperungen und Affekten entsteht.
Diskursanalytische Ästhetik
Es ging mithin darum, eine diskursanalytische Ästhetik zu entwickeln. Es galt, solche Verfahrensweisen und Methoden zu finden, die herausarbeiten, dass es sich bei den Redeweisen um Welterzeugungen sowie um die Herstellung von Machteffekten handelt. Indem nun Wort und Bild in ein Spannungsverhältnis treten, dürfte in der Widersprüchlichkeit die Kontrafaktizität des Gesprochenen aufscheinen und dessen Seinsbehauptung unterlaufen.
Dies zu erreichen, wurden unterschiedliche Ebenen ermittelt und genutzt. Die eher illustrierende Verfahrensweise zeigt sich z. B. in dem Moment, in dem Hansen von seinem S-1 Speculative Sensation Lab an der Duke University (S-1 Speculative Sensation Lab, 25.11.2104, Youtube) spricht und im Film Ausschnitte aus einem in diesem Lab gefilmten Video hinzugefügt werden.
Die konterkarierende Gestaltung kommt in der folgenden Montage zum Tragen. Spricht Hansen z. B. davon, dass in digitalen Kulturen die menschlichen Agierenden von technischen Dingen auf einer affektiven und damit vorbewussten Ebene angesprochen würden, zeigen die Video-Überlagerungen das Einsetzen von elektronischen Implantaten in den menschlichen Körper, die diese Affizierung ermöglichen können.
Auf diese Weise werden die Konsequenzen der gleichsam abstrakten Theorie veranschaulicht. Sie gehen regelrecht unter die Haut und werden integraler Bestandteil des Körpers, so dass ein techno-logisches Sein entsteht. Wenn Hansen daran anschließend die Idee entwirft, dass die aus den unbewussten physischen Regungen gewonnenen Daten über einen 3D-Drucker eine materielle Form erhalten sollen, zeigt das Video eine Welt, die mit Gestalten aus solchen Welten regelrecht zugemüllt ist. Zugleich materialisieren sich in diesen Bildern in der Gestalt von Müll die Unmengen an unwissentlich abgegebenen Daten.
Eine Vlog-Performance von Luise Behr, die aus dem Projekt „Medien&Paranoia“ stammt, wird mit dem Interview von Hansen zusammen geschnitten. In dieser Performance ging es um eine Zukunftsvision, in der eulenspiegelnd die theoretischen Modelle von Hansen zu Affektivität und Umweltlichkeit digitaler Kulturen verkörpert und auf ihre Konsequenzen hin abgetastet wurden. So berichtet die Protagonistin davon, dass ihr ein Chip hinter dem Ohr implantiert worden sei, mit dem ihre Stimmung gemessen würde. Dies führe dazu, dass sie nun Probleme mit ihrem Chef habe, da ihre Stimmung schlechte Werte erhielte, wobei sie selbst diese nicht spüre. Die Technik wisse mehr über sie, als sie selbst.
Techno-Ökologie und Dispositiv des Technosphärischen
Hintergrund für das Konzept des Video-Essays zum Interview mit Hansen ist ein mächtiges Diskursfeld, das sich aus Ding-Diskursen (Bruno Latour, Peter Weibel (Hg.), Making Things Public: Atmospheres of Democracy. Cambridge Massachuets: MIT Press 2005) und Techno-Ökologien (Erich Hörl (Hg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin: Suhrkamp 2011), wie sie auch von Mark B. Hansen (Mark B. N. Hansen, „Medien des 21. Jahrhunderts, technisches Empfinden und unsere originäre Umweltbedingung.“, in: Erich Hörl (Hg.) Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin: Suhrkamp 2011, S 365-409) oder dem sogenannten „New Materialism“ (Vgl. Karen Barad, “Posthumanist Performativity. Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter.” In: Signs: Journal of Women in Culture and Society 28 (3) 2003, S. 801–831, PDF) konstituiert. Ausgangspunkt ist ein Modell, nach dem menschliche Agierende und technische Dinge nicht länger in einem instrumentellen Verhältnis stehen, sondern vielmehr in einer symmetrischen Handlungsagentur verbandelt sind. Denn, so die technologisch begründete Einsicht, die sogenannten smarten Dinge blicken auf den Menschen zurück, antworten ihm und dies in einer proaktiven und vorausschauenden Weise. Paradigmatisch für die techno-ökologische Sicht in diesem Diskursfeld sind die medien-neuro-philosophischen Überlegungen von Mark B. Hansen (ebda.). Ihm geht es um eine „umweltliche Medientheorie“, in der Mensch unhintergehbar integraler Teil einer großen, vernetzten Struktur von unterhalb der menschlichen Wahrnehmung liegenden und operierenden technologischen Kräften und Wirkungen ist. Zu diesen gehören etwa Sensoren und smarte Technologien, die selbst ein makroskopisches und suborganismisches Empfindungsvermögen sein sollen. Sie zu beschreiben und zu analysieren dränge dazu, so Hansen, Mensch und Subjekt nicht mehr als Entitäten aufzufassen, sondern als Teile eines gigantischen, kosmischen Netzwerkes reiner Potentialität von Empfindungen und Ereignissen. Technologische Umwelten würden so als Affizierung zu einer eigenen Handlungsmacht, die der „Mensch“ nicht mehr kognitiv erfassen oder kontrollieren kann.
Die These ist, dass sich diese techno-ökologische Sicht zu einem „Dispositiv des Technosphärischen“ formieren könnte. Denn die Handlungs-Agenturen und technische Umwelten werden als eine neue Form von Sinnlichkeit und Sinn angesehen, die zu einer tiefen-sensorischen Techno-Partizipation führen sollen (Vgl. Erich Hörl,„Other Beginnings of Participative Sense Culture: Wild Media, Speculative Ecologies, Transgressions of the Cybernetic Hypothesis“, in: Mathias Denecke, Anne Ganzert, Isabell Otto, Robert Stock (Hg.) ReClaiming Participation. Technology, Mediation, Collectivity, Bielefeld: transcript 2016, S. 91–119). Damit antworten die sogenannten schwachen Ontologien auf die von technologischen Bedingungen sowie von den Neu-Beschreibungen selbst ausgelösten Krisen digitaler Kulturen, die vor allem dadurch erzeugt werden, dass menschliche Agierende keine autonome Stellung mehr haben können in den smarten Umwelten. Denn sie führen im Technosphärischen das Versprechen mit sich, Menschen eine Position sowie Formen von Handlungsmöglichkeiten im Jenseits von Wissen, Denken und Bewusstsein umfänglich erfassenden „Sensing“ und geheimnisvoll Umwehen technologischer Macht zu geben. In der techno-ökologischen, beinahe animistischen Resonanz können menschliche Agierende dann in diesem Dispositiv unmittelbar, wenn auch nicht mehr kontrollierbar beteiligt sein. Im technosphärischen „Sensing“ werden mithin neue Formen der Teilhabe halluziniert. Die Crux ist dabei, dass im Dispositiv des Technosphärischen mit diesem mit-schwingende und sich selbst optimierende Agierende entstehen, für die der Einblick in die Daten-Ökonomien und Daten-Politiken verdeckt ist, oder doch zumindest kein Problem darstellt.
Methoden und Kritik in digitalen Kulturen
Die beschriebene Situation, die sich durch ein hohes Maß an affektiver und unkontrollierbarer Vereinnahmung auszeichnet, erfordert und erschwert es zugleich, Methoden der Reflexion sowie der Kritik zu entwickeln. Es ist dabei zum einen davon auszugehen, dass es nicht mehr, wie bis das dato vorausgesetzt, eine Position des Außen für Kritik gibt. Vielmehr „ist“ man sich in den technischen Umwelten. Zum anderen sind diese Umwelten zunehmend opak. Dies ergibt sich etwa daraus, dass die großen Datenmengen nicht mehr allein von menschlichen Agierenden ausgewertet werden können und die algorithmischen Operationen nicht gänzlich für sie nachvollziehbar sind. Der Video-Essay soll in diesem Kontext als eine Methode der Erforschung digitaler Kulturen gelten, mit der es gelingt, sich zugleich in den technischen Umwelten zu bewegen und dennoch aus dem Innen heraus ein Außen zu entwickeln. Im Zentrum solcher Methoden hätte neben dem Beharren auf diskursanalytischer Schärfe, die gerade dann nötig wird, wenn in einem Erklärungs-Vakuum meine Welt-Theorien aufkommen, eine Vorliebe für Fragmentarisches und Vorläufiges zu stehen.
So zeigt sich etwa, dass im Vergleich zu einer textuell verfassten Analyse die filmische eine Form des wissenschaftlichen Arbeitens ermöglicht, die Diskurse veranschaulicht statt sie nur zu beschreiben. Dabei öffnet sich ein Feld von Assoziationen, Vermutungen, Ahnungen und Unbestimmtheiten, die für Formen und Methoden wissenschaftlichen Arbeitens in digitalen Kulturen stehen, die sich auf Verstehen und rationale Erkenntnis setzenden, hermeneutischen Traditionen entziehen. Claus Pias (Nicht-Verstehen in Digitalen Kulturen, Vortrag auf der Hyperkult XXV, 2015) hat vorgeschlagen, eine Theorie digitaler Kulturen zu entwickeln, die deren Konstitution aus dem Nicht-Verstehen nachgeht. Zu einem Ende käme damit auch eine gleichsam über sich selbst aufgeklärte, kritische Hermeneutik in der Medienwissenschaft, die zwar nicht an ein Verstehen im Sinne innerpsychischer Ordnungen und Prozesse in Individuen glaubte, wohl aber an die Möglichkeit, Medien beim Wirken und Werken zuzuschauen.
Mit Methoden eines experimentellen ästhetischen Arbeitens könnte auf diese Lage geantwortet werden. Zugleich kündigt sich eine neue Epistemologie mit diesen an. Forschung und Wissen werden zu einem fragmentarischen Ensemble, dessen Bestandteile in sporadischen und experimentellen Assemblagen verbunden werden können. Fluidität und Unabgeschlossenheit entsprechen deren Epistemologie. Damit würde sich die experimentell-praktische Forschung zugleich dem Anspruch der schwachen Ontologien entziehen, die derzeit in der Medien- und Kulturwissenschaft entstehen, um die neue Lage digitaler Kulturen zu bestimmen. Sie zielen nämlich, wie am Beispiel der Techno-Ökologien hier skizziert, eben doch aufs Ganze und wollen mit einem Modell die ganze Welt erklären.